Macht: Thriller (German Edition)
des Rollladens. Vor dem Haus war alles ruhig. Er konnte ungestört weiterarbeiten.
Aiakos schüttete den Inhalt eines weiteren Papiersäckchens in seine Handfläche. Ein zufriedenes Lächeln erhellte seine Züge. Endlich hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte. Der silberne Totenkopfring mit den rotglühenden Augen erwiderte sein Grinsen. Der Goldschmied des Ordens in der Innenstadt hatte Recht gehabt, das Schmuckstück war tatsächlich der verlorengeglaubte Ring von Otto Weininger. Gut, dass der Bruder ihn so rasch und verlässlich über Pogitschs Anfrage wegen der Meisterstempel informiert hatte. Er schätzte verlässliche Mitarbeiter so sehr wie er Schlamperei verachtete.
Aiakos zückte sein Notizbuch, griff sich einen der Plastikkugelschreiber und notierte eilig Namen und Adresse des Kunden: Gernot Szombathy, 1100 Wien, Triesterstraße 52.
Aiakos schlug das Büchlein zu, gab den Ring zurück in den Beutel und legte ihn gut sichtbar auf die Tischvitrine. Mit einer lässigen Handbewegung warf er eine Postkarte auf den Besucherstuhl.
Bruder Aiakos summte eine fröhliche Melodie, nahm eine Packung Feuchttücher aus dem Spiegelschrank über dem Waschbecken der Werkstatt und schlenderte zu dem Toten hinüber. Es wurde knapp, aber er war im Zeitplan. Die Totenstarre hatte nach zwei Stunden schon die Augenlider, die Kaumuskeln aber noch nicht vollständig ergriffen. Er konnte sie noch brechen. Aiakos reinigte das Gesicht des Goldschmieds und modellierte ein Lächeln hinein. Dann band er die Hände des Goldschmieds im Rücken zusammen, winkelte das freie Bein ab und fixierte den Knöchel mit Klebeband in der Kniebeuge des anderen.
Aiakos machte ein paar Schritte zurück und betrachtete den Gehängten von allen Seiten. Er war nahezu perfekt gelungen. Er zog eine Spielkarte aus der Sakkoinnentasche und klebte sie auf die Brust des Toten. »Der Gehängte«, die Nummer XII der Großen Arkana des Waite-Tarots. Für die Langsameren unter seinen Zeitgenossen. Aiakos zog einen Mundwinkel nach oben. »Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg zum Propheten«, kicherte er und tätschelte Pogitsch die Wange. Man musste dem sturen Berg nur zeitgerecht den richtigen Impuls geben.
Aiakos entsorgte die benutzten Feuchttücher und die Lederhandschuhe in den mitgebrachten Plastikbeutel, presste ihn zusammen und stopfte ihn in seine Manteltasche. Die angebrochene Packung legte er in den Schrank zurück, schaltete die Lichter aus und zurrte die Rollos wieder nach oben. Beschwingt durchquerte er das Vorzimmer, zog den Schlüsselbund ab und lehnte die Eingangstür an. »Leben Sie wohl, Herr Pogitsch«, flüsterte er und verschwand. Den Goldkessel beließ er an Ort und Stelle.
24
I an Thorpe war kein Freund von Menschenansammlungen in engen Lokalen. Er hielt sich an seinem Whiskey fest, schwitzte und suchte mit zunehmendem Ohrendruck nach einer Fluchtmöglichkeit. Er rang mit dem kindlichen Bedürfnis, zu schreien, mit Armen und Beinen um sich zu schlagen und zu treten, um sich Luft zu verschaffen.
Der hintere Teil des legendären Café Hawelka in der Dorotheergasse, keinen Steinwurf von vergoldeter Pestsäule am Graben und vom Stephansplatz entfernt, war bevölkert von Angestellten der US-amerikanischen Botschaft. Die Frauen und Männer drängten sich Schulter an Schulter, prosteten sich mit ihren Drinks zu und amüsierten sich prächtig. Die Party war in vollem Schwange, Alkohol und olle Kamellen flossen in Mengen. Der Duft backfrischer Buchteln aus der Küche legte sich über alles und jeden und berauschte mit der Verheißung von Zucker, Powidl und Hefeteig.
Thorpe ließ sich nicht bezirzen. Er schätzte einen klaren Kopf. Aber der party pooper , die Spaßbremse des Abends, wollte er auch nicht sein. Er simulierte eine gutunterhaltene Miene und quetschte sich an der Mittelsäule vorbei in den vorderen Bereich des alten kleinen Kaffeehauses. Vorne war es zwar trotz der späten Stunde genau so voll wie hinten, aber etwas angenehmer. Die Decke war höher und heller. Sie war mit nikotingegerbter Ölfarbe gestrichen und nicht wie der hintere Bereich mit dunklen Holzkassetten verschalt. Aber warum zum Teufel klebte eine Spielkarte da oben? Ausgerechnet das Herz-As? Ein Rätsel, das ungelöst bleiben musste. Die Kellner, im Smoking mit Hemd und Fliege, wieselten mit Silbertabletts zwischen den Tischen und Stühlen hin und her und machten auf Ian nicht den Eindruck, auf solche Fragen geduldig zu reagieren.
Thorpe plumpste
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