Macht: Thriller (German Edition)
Gernot spricht. Ist Josephine schon unterwegs? – Vor einer halben Stunde gegangen? – Danke, dann wird sie ja bald hier sein. Auf Wiederhören!« Er knallte den Hörer zurück auf die Gabel. Im Hintergrund hatte er Herrn Mahler poltern gehört. War mal wieder besoffen, der alte Sack. Deshalb verspätete sich Josephine zu ihrem eigenen Maturaball! Egal, was sie gesagt hat, er hätte sie abholen sollen!
Gernot stapfte zurück in den Saal, setzte sich an den Tisch zu seinen Eltern und starrte über die Tanzfläche zur Tür.
Josephine zwickten die Pumps. Es war das erste Mal, dass sie hohe Schuhe trug, und sie kämpfte mit dem Gleichgewicht. Sie hatte den Verdacht, den Kai entlang zu wackeln wie Miss Piggy . Der Weg von der U-Bahn und die Treppen herunter bis zum Donaukanal geriet zum Spießrutenlauf. Sie war spät dran und die Schuhe nagelneu. Hoffentlich passierte ihr auf den letzten paar Metern kein Malheur. Der Dampfer war nicht mehr weit. Schon konnte sie an Deck die Statue von Johann Strauss, eine Kopie des Denkmals im Stadtpark, Geige spielen sehen. Josephine stöckelte über die Gangway, knickte um und fing sich gerade noch rechtzeitig an der Reling. Nur nichts anmerken lassen! Sie strich sich das geglättete Haar aus dem Gesicht und stolzierte auf die Garderobe zu. Schon als sie den Mantel auszog, bemerkte sie die ersten Blicke. Josephine strich sich das Kleid über Bauch und Hüften glatt und zupfte den Saum zurück an seinen Platz. Die Mädels ringsum steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Josephine grinste, nahm ihr Täschchen und würdigte sie keines Grußes. Der Weg bis zum Saal, wo Gernot und seine Eltern einen Tisch reserviert hatten, war mit Teppichboden ausgelegt und barg somit keine weiteren Gefahren.
Gernot drehte sein unbenutztes Weinglas zwischen den Fingern und gierte nach einer Zigarette. Es stand zwar ein Aschenbecher auf dem Tisch, aber vor seinen Eltern hatte er noch nie geraucht. Josephine erschien in der Tür. Gernot blieb bei ihrem Anblick beinahe das Herz stehen. Anstelle der ausgebeulten Jeans, des Holzfällerhemds und eines Guns’n Roses -T-Shirts trug sie das kleine Schwarze von Palmers . Die Beine in den schwarzen Strümpfen reichten ihr bis zum Hals, und vom Babyspeck war kein Gramm mehr an ihrer Taille. Das brünette Kraushaar fiel ihr glatt und glänzend auf die Schultern. Gernot stellte das Glas ab und erhob sich. Wie hatte sie es bloß geschafft, diese Veränderung ein ganzes Schuljahr geheim zu halten?
Josephine suchte die Tische an der Tanzfläche ab, bevor sie eintrat. Sie wollte den Weg zu Gernot so kurz wie möglich halten. Zu unsicher erschien ihr der Gang über den Holzfußboden. Sie entdeckte Gernot, der gerade aufstand und auf sie zukam. Er sah gut aus in dem Smoking, dessen Kauf er so bejammert hatte. Und er hatte tatsächlich ihre Bitten erhört, die Haare zusammengebunden und sich sein komisches Musketier-Bärtchen abrasiert. Sie lächelte und setzte den ersten Fuß auf das Parkett. Die Tanzfläche war frisch poliert, und die Sohle rutschte weg. Josephine rettete sich im letzten Moment auf das kleine Sofa neben dem Eingang und ließ sich auf die Polsterung fallen. Das Kunststück gelang ihr gerade noch so, dass das Missgeschick fast wie beabsichtigt aussah. Hingegossen lag sie in ihrem kurzen Kleid auf der Bank. Josephine wurde heiß und kalt. Bestimmt konnte man ihr jetzt bis zu den Mandeln in den Hals schauen. Die Leute reckten die Hälse, und die Augen der ganzen Gesellschaft ruhten auf ihr. Auch die der Schulabgänger des Vorjahres, von denen einige der jungen Männer aufgesprungen waren, um ihr zu Hilfe zu eilen. Aber Gernot war schon zur Stelle, half ihr wieder auf die Füße und führte sie zu ihrem Platz.
Gernots Vater nickte anerkennend, stand auf und gab ihr freundlich die Hand.
Frau Szombathy spitzte die Lippen und musterte die Freundin ihres Sohnes von oben bis unten. Rósza blieb sitzen und sagte nichts. Sie hätte ein dezenteres Kleid für ein achtzehnjähriges Mädchen passender empfunden, insbesondere für Josephine.
Josephine zog ihre Hand wieder zurück und setzte sich zwischen Gernot und seinen Vater. Sie schob die Unterlippe nach vorne und legte das Täschchen neben ihr Gedeck auf den Tisch.
Die Reden von Direktor und Schulsprecher zogen sich ewig in die Länge. Gernot trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte, und Josephine stocherte in ihrem Salat. Endlich war es soweit, der Kaiserwalzer erklang, und das Ballkomitee zeigte die
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