Macht: Thriller (German Edition)
reinschicken?«, fragte ein Beamter.
»Nein, gib ihm einen Zwanziger, er soll sich im Schweizerhaus eine Stelze und ein Bier bestellen. – So eine depperte Frage! Rein mit ihm! Gemma!«
»Sehr wohl!« Der Polizist stand stramm und komplimentierte Udo Kernreiter in den Schulungsraum.
»Nix für ungut, Kollege«, entschuldigte sich Wotruba. »Mir liegen die Nerven blank. Nix geschlafen und der Schulterdurchschuss … Naja, Scheißtag eben. Du weißt, wie das ist.«
»Gute Besserung, Chefinspektor!« Der Uniformierte tippte sich an die Stirn und zog die Tür zu.
»Servus, Ernstel!«, gluckste Udo. »Bist ja wieder bester Stimmung heute.«
»Platz!«, knurrte Wotruba und nahm die andere Akte zur Hand, die zum Fall Pogitsch.
Josephine schaute irritiert zu Gernot hinüber, aber der reagierte gar nicht. Woher kannten Udo und er den Chefinspektor? Alle im Raum schienen sich von früher zu kennen, nur sie hatte keine Ahnung, wer dieser Polizist war. Die entsprechenden Anspielungen von Gernot und Wotruba hatte sie dann wohl missverstanden. Sie hatte gedacht, sie bezögen sich auf gestern.
»Hahaha! Der Ernstel, immer ein Späßchen auf den Lippen.« Udo setzte sich neben Josephine. Zwischen ihr und Gernot waren zwei Stühle frei. Zufrieden registrierte er die dicke Luft zwischen den beiden. »Und warum seid ihr zwei hier?«
»Deshalb!« Der Chefinspektor schleuderte ein Foto des toten Goldschmieds zu Udo hinüber. »Und darum!« Die eingetütete Postkarte vom Großen Turmbau segelte hinterher. »Los, sing mir was vor, Udo! Ich will dein glockenhelles Stimmchen hören.«
30
Wien, 1996
I ch habe in meinem Leben in Summe schon Tage auf Frauen gewartet«, hatte ihn sein Vater bei Tisch beruhigt, aber richtig gefruchtet hatte dieser Versuch nicht. Gernot war aufgestanden und hatte den Festsaal verlassen. Josephine war schon dreißig Minuten über der vereinbarten Zeit.
Der Abschlussball des Maturajahrgangs 1996 stand ganz unter dem Motto der Tausendjahrfeier Österreichs. Der Blumenschmuck und die Tischdekorationen auf den Decks des Restaurantschiffs »Johann Strauss« waren in Rot-weiß-rot gehalten. Der fast siebzig Meter lange Raddampfer lag nahe dem Schwedenplatz bei Donaukanalkilometer 6,150 am rechten Ufer des Donaukanals und war von Bug bis Heck feierlich beleuchtet. Vor den Panoramafenstern schob sich dunkel das Wasser vorbei, und die Reflexionen der Straßenbeleuchtung und der Glasfassaden am linken Ufer tanzten auf den Wellen. Die Garderoben und Stühle füllten sich, und die Musiker nahmen langsam ihre Plätze ein.
Gernot fühlte sich nicht wohl in dem neuen Smoking, der Stehkragen des Hemdes scheuerte, und der in der Werbung angepriesene Aftershave-Balsam legte einen schmierig-blumigen Film auf seine Wangen. Er hörte den Donaukanal gegen die Schiffswand klatschen und suchte treppauf treppab nach einem Telefon. Er machte sich große Sorgen. Es blieb nicht mehr viel Zeit, bis das Ballkomitee eröffnete. Die Mädchen in den weißen Kleidern waren schon ganz nervös und standen Schlange vor der Damentoilette.
Mittschiffs beim Eingang entdeckte Gernot einen öffentlichen Fernsprecher und holte seine 100-Schilling-Telefonwertkarte aus der Tasche. Er zog sie aus der Hülle und vertiefte sich einen Moment in den Doppeladler und die Porträts von Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth. Es hatte Wochen gedauert, bis er die Millenniumsonderausgabe mit Guthaben in einer Telefonzelle gefunden hatte. Aber als Telefonwertkartensammler musste man hartnäckig bleiben und geduldig Kabine für Kabine absuchen. Auf dieselbe Art und dabei völlig kostenlos hatte er schon die Palmers -Edition mit den Fotos von Cindy Crawford, Nadja Auermann und Naomi Campbell in Spitzenunterwäsche zusammengekriegt.
Einige Schulkollegen kamen mit ihren Tanzpartnerinnen über die Gangway an Bord und umringten Gernot. »O, der Schimmel an deinem Kinn ist weg, Gernot. Sieht gut aus!« Ein anderer legte ihm den Arm auf die Schultern und lachte: »Aus Gérard Depardieu ist Gernot-der-Bart-ist-adieu geworden!« Die Mädchen in den Ballkleidern standen dabei und kicherten.
Gernot brummte ein paar Erwiderungen, aber hatte weder den Nerv noch die Lust, bei dem Schabernack auf seine Kosten mitzumachen. Er schob sich an den Burschen vorbei, nahm den schwarzen Bakelithörer ab und steckte die Wertkarte in den Schlitz. Er hämmerte Josephines Telefonnummer in die Metalltasten und lauschte auf das Freizeichen. »Guten Abend, Frau Mahler! – Ja,
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