Macht und Rebel
steht. Sein Oberkörper sieht entschieden besser aus als Rebels. Rebel ist aufgefallen, dass Macht unverhältnismäßig oft nackt rumläuft. Machts Oberkörper und Beine sind stärker zerkratzt als Rebels; vorn und hinten ist er voller roter Spuren von Mädchenkrallen.
»In einer halben Stunde, ja«, sagt Rebel. Zwei Homo Sapiens, face to face, unbekleidet.
»Wo is'n Thong?«, fragt Macht und drückt Jr. an sich, die gerade aus dem Schlafzimmer geschlurft kommt. Er legt den Arm um sie, so, wie es »Verliebte« tun.
»Ist im Bad, rasiert sich«, sagt Rebel.
»Rasiert sich? Kommt sie schon in das Alter? Hä?«, grinst Macht und tätschelt Jr. den Hintern. Jr. ist noch nicht mal zu einem Drittel durch die Pubertät.
»Schönen Gruß an Siegfried«, sagt er und zieht das Mädchen wieder Richtung Schlafzimmer.
Männer unterliegen dem merkwürdigen Drang – oder ist es ein Instinkt? –, an neuen Orten den Penis raushängen zu lassen. Du mietest ein Ferienhaus? Der Penis muss raus. Ein Hotelzimmer? Der Penis muss raus. Du fährst mit einem Leihwagen einsam durch die Gegend? Der Penis muss raus, aber auf jeden Fall. Männer fühlen sich an einem neuen Ort erst sicher, wenn der Penis an der Luft war. Thongs Wohnung ist jetzt ein sicherer Ort. Wie bereits klar sein dürfte, haben Macht und Rebel heute Nacht diesen Job erledigt.
Rebel zieht sich an und küsst Thong zum Abschied.
»Bin heut Abend wieder da«, sagt er.
Wie die meisten Tattoo-Läden liegt Siegfried Heils Studio in einem Tiefgeschoss. Der Unterschied zwischen Siegfried Heils Geschäft und vergleichbaren Unternehmen besteht darin, dass Siegfried sich nicht einmischt, was Ort und Motiv deiner Tattoos angeht. So hat er einmal einem Typen, der auf der Arbeit immer nur »Fickfresse« genannt wurde, bis er beschloss, die Beschimpfung zu einem Teil seiner selbst zu machen, auf die eine Wange Schamhaar und auf die andere einen Anus tätowiert, direkt ins Grübchen. Kriegst du Lust, dich im Suff tätowieren zu lassen, bitte schön. Oder wenn du erst neun bist. Dieser Typ kennt keinen politisch korrekten »Tattoo-Kodex« oder so, nö. So stammen auch Machts Tattoos von Siegfried, und von Macht stammt der Hinweis, dass Siegfried genau der Mann sei, den Rebel jetzt brauche. An ihrem zweiten oder dritten gemeinsamen Abend hatte Rebel gesagt:
»Ich WEIGERE mich, mir õeine Meinung zu bildenã oder selbstständig zu denkenã oder õhinter einer Sache zu stehenã. Ich hab diese Meinungsfreiheitskultur so scheiß über. Ich bitte und bettele darum, gefesselt und geknebelt zu werden, aber denkst du, in der zivilisierten Welt gibt es irgendwo einen Menschen, der sich die Mühe machen würde, mich zu unterdrücken? Von wegen.«
»Ist doch klar«, sagte Macht pädagogisch, »deine freedom ofSpeech steht über allem. Der entkommst du nicht, weißt du.«
»Freedom of Speech ? Hä! Freedom of kitsch müsste es heißen. Ich will nur, dass die Leute die Schnauze halten, aber was ist? Alle sind wir dazu verurteilt, frei zu sein und uns frei zu äußern und frei zu wählen und uns frei zu entscheiden, alle die reinsten beschissenen Kitschmaschinen. Warum können nicht alle einfach die Klappe halten? Ich auch? Man braucht wirklich nicht noch eine Meinungen absondernde Seele, die die Leute mit noch mehr Kitsch über Menschenrechte oder Menschenwürde und was noch alles quält. Die Logik ist doch die: Da niemand sich dazu herablässt, mich zu bevormunden, bin ich genötigt, die anderen zu bevormunden«, sagte Rebel.
»Klar, klar«, sagte Macht.
»Ich werde Fatty in die Knie zwingen, und außerdem werde ich mir selber den Krieg erklären«, sagte Rebel. »Krieg gegen meine Rasse, meine sexuelle Orientierung, meine Kultur. Am liebsten würde ich allen weißen, heterosexuellen Mainstream-Menschen das Recht aberkennen, Dinge zu MEINEN. Wie? Indem ich die Leute zu der Einsicht bringe, dass sie ihr eigenes Anrecht auf Meinungen bereits zunichte gemacht haben. Und wie haben sie das geschafft? Indem sie es mit der Toleranzideologie und dem Vielfaltsfetisch übertrieben haben. Der Mainstream-Mensch hat sich selber um das Menschenrecht auf Fremdbestimmtheit betrogen, und es ist an der Zeit, dass er die Folgen zu spüren bekommt. Was war das Ziel der großen Kämpfer für die Menschenrechte? Das hier? Ein Meer von Individualisten, die alle das Recht haben, sich frei zu äußern?«
»Nein …«
»Nein. Wir müssen zurück in die Unsicherheit, Macht. Alles müsste zurück in Nebel und
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