Machtkampf
Allein schon diese einleitenden Worte ließen das Schlimmste befürchten.
Schaufler schlug die ersten Seiten auf, als wolle er das Gutachten jenes Professors vorlesen, der deutschlandweit als Koryphäe auf seinem Gebiet galt. »Wir brauchen nicht alles durchzugehen«, sagte er, um dann schonungslos das Ergebnis zu offenbaren: »Manuel wird als voll glaubwürdig eingestuft.«
Kugler schloss für einen Moment die Augen und sackte in sich zusammen, keiner Worte mehr mächtig.
»In allen Tests und psychiatrisch-psychologischen Explorationen hat der Bub nicht den Eindruck hinterlassen, eine Schilderung des Sachverhalts, wie er sie vor der Polizei abgegeben habe, frei erfinden zu können.« Schaufler blätterte zu den letzten Seiten. »Manuel ist in der Entwicklung zurückgeblieben, eher unterdurchschnittlich intelligent, verschüchtert und weist Ansätze zu verhaltensgestörtem Benehmen auf, schreibt der Gutachter.« Der Anwalt deutete auf einen fett gedruckten Abschnitt und interpretierte ihn so: »Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kann man die Aussagen des Kindes als verlässlich betrachten, denn – so steht es hier – ›ein Kind mit einem solchen Verhaltensmuster, das noch von starker kindlicher Naivität geprägt ist, wäre gar nicht in der Lage, eine logische Lügengeschichte zu erfinden und sie gegenüber einer starken schulischen Autorität konsequent beizubehalten‹.«
»Das war’s dann ja wohl«, flüsterte Kugler.
»Natürlich nicht«, erwiderte Schaufler schnell und schlug das schriftliche Gutachten zu. »Die Staatsanwaltschaft sieht sich damit zwar bestätigt, aber vor Gericht hätten wir mittlerweile eine neue Situation. So tragisch die Vorkommnisse vom Wochenende auch sind, sie haben dazu geführt, dass vor Gericht kein Opfer mehr auftreten wird.«
Kugler runzelte die Stirn und presste seine gefalteten Hände so fest zusammen, dass sich die Fingerknöchel weiß abzeichneten. »Soll ich mich jetzt freuen, dass Manuel tot ist?«
Schaufler schüttelte den Kopf. »So war das nicht gemeint. Aber ich betrachte den Fall von der juristischen Seite her …«
»Ich glaub, wir lassen’s einfach«, resignierte Kugler. »Warum soll ich mich quälen – vielleicht durch viele Instanzen –, wenn ich nichts getan habe? Macht es Sinn, für etwas zu kämpfen, was ohnehin schon verloren ist?«
Schaufler spürte, dass aus seinem Mandanten das Kämpferische gewichen war. »Verloren ist noch gar nichts, Herr Kugler. Wer zu Unrecht beschuldigt wird, darf sich nicht aufgeben.«
Kugler überlegte ein paar Sekunden. »Jetzt, da das Opfer nicht mehr lebt, geht’s doch nur noch nach dem, was dieser Professor hier schreibt. Das Gericht kann sich nicht mal selbst ein Bild von dem Kind verschaffen.«
»Aber dafür von Ihnen«, konterte Schaufler. »Wir werden darlegen, auch mithilfe von Zeugen, dass Manuel ein verhaltensgestörtes, verschüchtertes Kind war, ein Einzelgänger, von der Mutter vernachlässigt, vom Vater verstoßen …«
»Halt, halt«, unterbrach ihn Kugler. »Das mag zwar alles zutreffen, aber ich weigere mich, Frau Kowick als die böse Rabenmutter darzustellen.«
»Verzeihen Sie, Herr Kugler, aber vor Gericht sollten wir solche Befindlichkeiten zurückstellen. Es geht um Sie, vergessen Sie das nicht. Und wenn’s hart auf hart kommt, ist eine Einstellung des Verfahrens im Zweifelsfall besser als eine Verurteilung.«
»Für mich nicht«, blieb Kugler hartnäckig. »Was ist schon eine Einstellung des Verfahrens wert? Dass ich nicht bestraft werde, ja – aber für die Öffentlichkeit bleibe ich dann der Kinderschänder.« Er musste kräftig husten. »Wie ist das überhaupt: Wird so was trotzdem verhandelt – auch wenn das Opfer tot ist?«
Schaufler nickte. »Wir haben die Aussagen des Kindes – und weil es sich bei der Sache um ein sogenanntes Offizialdelikt handelt, muss die Staatsanwaltschaft von sich aus tätig werden. Selbst wenn die Mutter kein Interesse mehr an einer Strafverfolgung hätte, würde es uns nichts helfen.«
Der Anwalt griff zu seinem Diktiergerät und drückte eine Taste. »Im Strafverfahren gegen Dieter Kugler …«
»Moment«, unterbrach ihn Kugler erneut. »Ich glaube, ich will das gar nicht mehr.«
»Wie bitte?« Schaufler musterte sein Gegenüber und sah, dass auf Kuglers Stirn Schweißperlen glitzerten. »Sie wollen …?«
»Ich bin schuldig«, flüsterte Kugler schwach. »Und ich bin schon so gut wie verurteilt.«
Martin Wissmut war
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