Machtkampf
Vorfall in Rimmelbach, der in der Öffentlichkeit für Wirbel sorgt.«
Kugler schwieg und schloss konzentriert die Augen. Was würde jetzt besser sein? Das Gespräch beenden, auflegen und auf keine Frage eine Antwort geben? Dann aber hätte er sich die Chance zur Verteidigung verbaut und wüsste nicht, welchen Kenntnisstand der Journalist hatte. Jetzt konnte ihm jedes unbedacht dahergesagte Wort Kopf und Kragen kosten. Und würde er erwidern, er wolle erst einmal mit seinem Rechtsanwalt reden, denn wäre daraus möglicherweise zu folgern, dass er sich bereits juristischer Mittel bedienen musste. Er wusste, dass er jetzt nur Falsches tun konnte. Er stand bereits mit dem Rücken zur Wand, obwohl das ganze Verfahren noch gar nicht in Gang gekommen war.
»Ich wollte nur mal wissen, wie Sie dazu stehen«, hörte er wieder Neths Stimme. Für einen Augenblick überlegte Kugler, ob er etwas überhört hatte – oder hatte Neth das Entscheidende tatsächlich noch nicht beim Namen genannt?
»Wozu?«, fragte er mit trockenem Mund.
»Reden wir nicht lange drum rum«, wurde der Journalist jetzt deutlicher. »Es geht um die Sache im Religionsunterricht.«
Kugler spürte ein inneres Zittern. Er fror. Musste er jetzt wirklich etwas sagen? Er entschied sich erneut zu schweigen.
»Es heißt, Ihnen wird vorgeworfen, ein Kind unsittlich berührt zu haben«, brachte Neth die Sache auf den Punkt.
Kugler schluckte. Er empfand Blutleere im ganzen Körper. Als er kurz die Augen öffnete, war es ihm, als drehe sich der ganze Raum. »So, heißt es das?«, war alles, was er entgegnete, um nach zwei, drei Sekunden hinzuzufügen: »Was es heißt und was Realität ist, ist oft ein großer Unterschied.« Ihm war klar, dass er kurz und knapp schildern sollte, wie er zu den Anschuldigungen stand.
»Und wie stellt sich die Sache aus Ihrer Sicht dar?«, bohrte Neth weiter.
»Da gibt’s überhaupt nichts zu erklären. So wie es aussieht, versucht jemand, mich auf infame Weise loszuwerden.«
»Ach?«, staunte Neth, der den Trubel noch gut in Erinnerung hatte, der durch Kuglers Bewerbung für die Pfarrstelle entstanden war. »Sie meinen verspätete Rache?«
»Ob man es Rache nennen kann oder Vergeltung oder was auch sonst immer, vermag ich nicht zu sagen.«
Neth wollte gerade etwas erwidern, als Kugler ihm das Wort abschnitt: »Und jetzt möchte ich Sie bitten, die Angelegenheit als das zu behandeln, was es ist – nämlich ein schwebendes Verfahren, das man auch als Rufmord bezeichnen könnte.«
»Und welche Konsequenzen werden Sie daraus ziehen?«
Kugler stand auf und spürte, dass er auf wackligen Beinen stand. »Wieso sollte ich Konsequenzen ziehen? Würden Sie Ihren Job gleich aufgeben, bloß weil Ihnen jemand etwas Schreckliches vorwirft?«
»Ich glaube nicht, dass man das vergleichen kann.«
»Oh doch«, fasste Kugler wieder Mut. »Was glauben Sie, wie viel Denunziantentum täglich in diesem Lande vorkommt? Nichts ist doch einfacher, als über jemanden anonym ein Gerücht zu verbreiten oder ihn bei der Staatsanwaltschaft anzuzeigen. Selbst wenn das Verfahren eingestellt wird oder es zu einem Freispruch kommt, bleibt immer etwas an demjenigen hängen.«
»Sie befürchten also, dass auch etwas an Ihnen hängen bleibt?«
»Ich möchte mich darüber jetzt nicht länger mit Ihnen unterhalten, Herr Neth. Entschuldigen Sie bitte, aber mehr, als dass an der Sache nichts, aber auch gar nichts dran ist, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich möchte Sie noch einmal inständig bitten, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht darüber zu berichten. Oder wollen Sie mich und meine Familie systematisch zerstören und sich von dem Lügenerfinder instrumentalisieren lassen?«
»Aber ich …«
»Natürlich steht es Ihnen frei, die Sache so zu behandeln, wie Sie oder Ihr Verlag oder Ihr Chefredakteur es für richtig halten, aber denken Sie auch daran, dass Sie als Journalist eine gewisse moralische Verantwortung haben.«
»Das entscheiden nicht alleine wir hier in der Provinz, Herr Kugler. Wenn wir nicht drüber berichten, dann tun’s andere.«
Der Theologe stützte seinen massigen Körper mit einer Hand an der Schreibtischkante ab. Jetzt kam auch noch dieses Totschlagsargument: Wenn wir’s nicht tun, dann tun’s andere. Er konnte diesen Satz nicht mehr hören. Wenn wir die Atombombe nicht einsetzen, tun’s andere. Oder: Wie leicht ist es doch, das eigene Handeln dem Zwang anderer zu unterwerfen? Ich würde es ja nicht tun, wenn nicht die anderen
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