Machtkampf
Schicksale und spürte auch jetzt wieder die Betroffenheit, mit der er in all diesen Fällen tröstende Worte gesucht hatte.
Was würden sie wohl sagen, wenn er denselben Weg wählen würde? Er schloss die Augen und sah Züge auf sich zurollen. Züge, die Menschen zermalmten. Wie verzweifelt musste jemand sein, der es fertigbrachte, vor eine Lok zu springen?
Kugler fröstelte. Er stand auf und wankte auf zitternden Beinen ins Esszimmer hinüber. Seine Frau war entsetzt, als sie ihn mit fahlem Gesicht auf sich zukommen sah. »Wer hat denn angerufen?«
Er ließ sich schwer atmend auf einen Stuhl sinken. »Die Zeitung«, sagte er tonlos und schloss wieder die Augen.
»Die Zeitung?«
Er nickte. »Ich hab es ihm nicht ausreden können.«
»Wem?«
»Dem Neth.« Er legte sein Gesicht in tiefe Falten. »Das ist der, der voriges Jahr hier über meine Bestellung als Ortspfarrer berichtet hat. Kannst du dich nicht mehr an den Namen erinnern?«
Frau Kugler legte das Magazin beiseite, in dem sie geblättert hatte, ohne den Inhalt wirklich aufzunehmen. »Wahrscheinlich tut er auch nur seine Pflicht.« Kaum hatte sie es gesagt, wurde ihr bewusst, dass es leere Worte waren.
Er schwieg und schloss die Augen.
»Weißt du«, wandte sich seine Frau ihm zu, »wir sind schon durch so viele Tiefs gegangen und jedes Mal stärker geworden. Erinnerst du dich, wie wir mit Gottvertrauen das letzte Jahr gemeistert haben?«
Er wollte gar nicht mehr daran erinnert werden. Als er seine Augen wieder öffnete, sah Franziska, dass sie feucht und unendlich müde waren. »Du hast damals gesagt, Gott habe uns Prüfungen auferlegt.«
»Ja, das habe ich«, nickte er schwer. »Aber warum schon wieder eine Prüfung?« Er ließ ein paar Sekunden verstreichen. »Ich habe einfach nicht mehr die Kraft, dies alles durchzustehen. Was glaubst du denn, was morgen hier los sein wird?«
Franziska streichelte ihm über den Arm, stand auf und schenkte ihm einen kleinen Schluck Kognak in ein Glas. Er nahm es mit zitternder Hand und trank. »Man soll seinen Kummer nicht in Alkohol ertränken«, sagte er, als müsse er sich entschuldigen. »Das macht alles nur schlimmer.«
Franziska entgegnete nichts.
»Was glaubst du, wie ich am Sonntag im Gottesdienst dastehe?«, fuhr er fort. »Soll ich so tun, als ob nichts gewesen wäre? Obwohl die wenigen, die da sein werden, nur daran denken, dass ich ein Kinderschänder bin?«
Seine Frau setzte sich wieder zu ihm. »Es ist Erntedank …«
Kugler fühlte sich dabei ertappt, dass er dieses kirchliche Fest verdrängt hatte, das in Rimmelbach wegen des raueren Alb-Klimas stets erst eine Woche nach dem üblichen Termin stattfand. Dazu würden übermorgen, am Samstag, die ehrenamtlichen Helfer wieder den Altar mit den Früchten der Gärten und Felder schmücken. »Wie kann ich den Herrgott lobpreisen für die Ernte, wenn ich dastehe, als würde ich mich an Kindern vergehen?«
»Vielleicht findest du einen Weg, Erntedank mit dem menschlichen Zusammenleben zu verbinden.« Sie wusste, dass er ein großes Talent dafür hatte, kirchliche Gedenktage mit den Alltagssorgen zu verknüpfen, und ergänzte: »Hier eine gute Ernte, dort die Menschen, die sich gegenseitig aufreiben, anstatt Gott dafür zu danken, dass uns die geschundene Erde noch immer ernährt.«
»›Gegenseitig aufreiben‹«, zitierte er ihre Worte. »Das klingt mir viel zu harmlos.« Er spürte, wie eine innere Energie plötzlich aufflammte. »Seit die Menschen ihre Sensibilität für die geistige Welt verloren haben, hat sich Kälte breitgemacht. Unsere angeblich christlich geprägte Gesellschaft in Mitteleuropa hat sich mit der Abkehr von allem, was sich nicht betriebswirtschaftlich rechnet oder keinen naturwissenschaftlichen Gesetzen standhält, selbst ein wichtiges Standbein zum Überleben abgesägt: die Moral und den Glauben an eine höhere Macht, deren Bestandteil wir alle sind und der wir uns nicht widersetzen können.«
Franziska lächelte. »Siehst du, Dieter, ich hab es gewusst: Du bist auf einem guten Weg.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Wenn’s nur so einfach wäre«, fiel er wieder in sich zusammen. Vielleicht hatte diese höhere Macht auch anderes mit ihm vor. Vielleicht war es sinnlos, sich dagegen zu wehren. Seit über einem Jahr stieß er nur noch auf Widerstände. Wie Schlaglichter tauchten in Gedanken die Anfeindungen auf, denen er in Rimmelbach ausgesetzt war. Er kam sich wie ein Schwimmer vor, der gegen einen reißenden
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