Machtlos
Knien verließ sie den Raum.
Eric Mayer wartete im Nebenraum auf sie. Er stand auf, als sie eintrat. »Alles in Ordnung?«
Sie brachte keinen Ton heraus. Scham überwältigte sie bei dem Gedanken, dass er schon bald den Bericht der Ärztin in Händen halten würde. Sie wollte nicht, dass jemand, ein Fremder, ein Mann, im Detail erfuhr, was sie mit ihr gemacht hatten. Sie konnte nicht einmal mit Marc darüber reden. Aber es war ihre einzige Chance, Burroughs zu Fall zu bringen. Mayer brauchte ihre Aussage und stichhaltige Beweise.
»Ich würde Sie dem nicht aussetzen, wenn es nicht unbedingt nötig wäre«, hatte Mayer ihr auf dem Weg versichert. »Ich weiß, wie schwer das alles für Sie ist.«
Wusste er das wirklich? Ahnte er in diesem Augenblick, wie nackt und verletzlich sie sich fühlte? Wie einsam?
Sie hatte versucht, eine rationale Distanz aufzubauen, sich selbst in der dritten Person zu sehen, aber sie erkannte schnell, dass sie mit Erinnerungen kämpfte, die sich nicht beherrschen ließen. Sie besaßen ein dunkles, verzehrendes Eigenleben, dem sie sich nicht entziehen konnte. Und die direkte Konfrontation, die sie jetzt erlebte, hatte nichts Heilsames, nichts Befreiendes, sie war wie das schmerzhafte Bohren in einer entzündeten Wunde. Und es war noch lange nicht vorbei.
Sie fuhren weiter ins Polizeipräsidium, wo sie ihre Aussage zu Protokoll geben würde. Unterwegs sprach Mayer nicht viel mit ihr. Sein Handy klingelte nahezu ständig, und sie spürte die Anspannung, unter der er stand, wenn er mit zum Autofenster hinausgewandtem Blick knappe Antworten gab.
Und dann waren sie da. Der Anblick des Polizeipräsidiums, der Weg aus der Tiefgarage in das Gebäude, der Geruch, der ihr aus den einförmigen Fluren entgegenströmte, löste eine kaum zu ertragende Beklemmung in ihr aus.
Mayer bemerkte ihr Zögern. »Wir können die Aussage auch an einem anderen Ort aufnehmen.«
Sie schüttelte den Kopf. Sie würde das durchstehen. Wie alles andere auch.
Als sie den Vernehmungsraum betrat, fragte sie sich, ob es derselbe war, in dem sie Stunden um Stunden mit Mayer zugebracht hatte. Sie blickte auf das Aufnahmegerät. Die Kamera auf dem Fensterbrett. Mayer hatte alles vorbereiten lassen. Jetzt zog er sein Handy aus der Brusttasche seines Jacketts und schaltete es ab. »Sind Sie bereit?«
Er war um Sachlichkeit bemüht. Distanz. Er ließ sie erzählen, hakte nur hier und da mit vereinzelten Fragen nach, und nicht einmal seine Augen verrieten, was er empfand.
Die Worte füllten den Raum, und die Erinnerung wurde lebendig, überwältigte sie, als hätte sie eben erst das Gefängnis in Rumänien hinter sich gelassen. Sie konnte wieder den Schnee unter ihren Schuhen spüren, sah das Winken des Postens, sein junges Gesicht, durchlebte erneut Martinez’ drohendes Schweigen und das Gefühl des Schwindels, das sie in der Weite der in Kälte erstarrten Landschaft überwältigt hatte. Und dann war sie zurück in ihrer Zelle. Zurück in jener Dunkelheit voller Schmerzen und Angst …
Ein kaltes mechanisches Klicken brachte sie zurück in die Gegenwart. Mayer hatte das Aufnahmegerät ausgeschaltet. Er stand auf und kam um den Tisch herum zu ihr. Reichte ihr ein Papiertaschentuch. Langsam löste sie ihre verkrampften Fäuste. Ihre Fingernägel hatten rote Abdrücke in ihre Handfläche gegraben. Mayer nahm ihre Hände und strich behutsam über die Stellen, als wolle er sie glätten. »Wir können jederzeit aufhören, wenn es zu viel ist.«
Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht aufhören, nicht nach Hause gehen mit dem Gefühl, am nächsten Tag wiederkommen zu müssen. Sie wollte, dass es vorbei war. »Wir machen weiter«, sagte sie leise.
Mayer wusste, was für eine Kraft es sie kostete. »Sie sind die couragierteste Frau, die ich kenne«, bemerkte er mit jenem Lächeln, das nur so selten über seine Züge huschte.
Alpträume quälten sie in den folgenden Nächten, und wenn sie schließlich aufwachte, konnte sie nicht wieder einschlafen. In der Dunkelheit lauschte sie Marcs gleichmäßigen Atemzügen und empfand seine Gegenwart abwechselnd als beruhigend oder bedrohlich. Wenn sie es nicht mehr aushielt, stand sie auf, ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Ließ sich berieseln von nichtssagenden Serien und bunten Bildern, bis sie vor dem flimmernden Schirm auf der Couch wieder einschlief. Marc schaltete am Morgen wortlos den Fernseher aus und zog ihr die Decke über die Schultern. Er legte ihr
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