Machtlos
Vortag hatte er auf einen Anruf Mayers hin eine Tasche mit Wäsche, Kleidung und Kosmetik ins Polizeipräsidium gebracht. Er hatte gehofft, Valerie sehen zu können, sich zu überzeugen, dass es ihr gut ging, sie wenigstens einmal in die Arme zu schließen. Ihre Stimme zu hören. Aber er wurde nicht einmal in das Gebäude hineingelassen. Der Pförtner war informiert gewesen, hatte die Tasche entgegengenommen und ihm einen irritierten Blick zugeworfen, als er unschlüssig vor seinem Glaskasten stehen geblieben war. »Es ist niemand mehr hier«, hatte er ungeduldig gesagt, obwohl Marc nicht einmal gefragt hatte. »Wenn Sie noch Fragen haben, müssen Sie morgen anrufen.« Vor dem Mann lag ein angefangenes Rätsel auf dem Tisch, der Kugelschreiber wippte bereits wieder zwischen seinen Fingern. Die ungeduldige Art des Mannes machte Marc wütend. Er war nicht irgendein dahergelaufener Niemand, den man auf diese Weise abfertigen konnte. Über das Büro der Staatsanwaltschaft hatte er einen ehemaligen Studienkollegen erreicht, der den Kontakt zu einem leitenden Angestellten der Polizeibehörde herstellte – leider ohne nennenswerten Erfolg. In der zunehmenden Dämmerung hatte er daraufhin auf die Fassade aus Glas und Beton gestarrt und sich gefragt, wo sich Valerie in dem Gebäude befinden mochte. Ob sie sich über den Pullover freute, den er ausgesucht hatte, und ob sie, wie es ihre Art war, die Nase in der weichen Wolle vergrub, bevor sie ihn überstreifte. Ihm war, als müsse er nur eine Hand ausstrecken, um sie zu berühren. Sie war so nah und doch unerreichbar. Schließlich war er wieder ins Auto gestiegen und nach Hause gefahren.
Wenn sich nicht bald etwas tat, würde er seine Lüge, dass sich Valerie noch immer in London aufhielt und den ganzen Tag so eingespannt war, dass sie nicht einmal anrufen konnte, nicht aufrechterhalten können. Aber was würde er den Mädchen dann erzählen? Ihnen und allen anderen. Er konnte nicht einfach sagen: »Meine Frau, nein, die ist zurzeit nicht da. Sie ist unter Terrorverdacht verhaftet worden.« Er stellte sich die Irritation in den Gesichtern der Menschen vor, das nervöse Lachen über seinen vermeintlichen Scherz, gefolgt von blankem Entsetzen und plötzlichem Zurückweichen, wenn sie begriffen, dass er es ernst meinte.
In zehn Tagen war Weihnachten. Sie mussten Valerie gehen lassen. Es war unvorstellbar, das Fest ohne sie zu feiern.
* * *
Burroughs’ Anruf erreichte Eric Mayer auf dem Weg in das amerikanische Generalkonsulat, wo sich an diesem Morgen die Führungsriege der eigens für die Sicherheit des Gipfels gegründeten internationalen Sondereinheit traf. Auch Burroughs würde da sein, in weniger als einer Viertelstunde würden sie einander gegenüberstehen, weshalb es Mayer überraschte, dass er ihn vorher noch telefonisch kontaktierte.
Burroughs’ Stimme klang belegt und rauh. Vermutlich hatte der Besuch des Weihnachtsmarktes länger gedauert. »Ich hab heute Nacht den Anruf aus Langley bekommen wegen des Fotos.«
Mayer blieb unwillkürlich stehen. »Und?«, fragte er und hoffte, dass die knapp geäußerte Silbe nicht zu viel seiner Spannung verriet.
»Es ist definitiv echt. Keine Fälschung. Ich bekomme die Analyse heute noch per Mail und leite sie dann an Sie weiter.«
Mayers Blick wanderte über das Wasser.
Irgendwo in dieser Stadt wartet ein Schläfer auf seinen Weckruf.
Das gegenüberliegende Ufer der Alster war im Schneetreiben verschwunden, und es schien, als blicke er in ein graues Nichts, gerahmt von den Silhouetten der Bäume am Ufer, in deren kahlen Ästen sich die großen weißen Flocken verfingen und liegen blieben, als müssten sie Atem holen, nur um dann erneut in einer Bö aufzufliegen, fort, hinaus auf die weite Fläche des Sees. Es lag eine Leere in diesem Anblick, eine einsame Kälte, die er plötzlich auch in seinem Inneren verspürte. Die Fotografie, die Valerie Weymann in Hamburg mit Noor al-Almawi, Mahir Barakat und dem Attentäter von Kopenhagen zeigte, war also echt. Es fiel ihm schwer, das zu akzeptieren, nachdem er ihre Reaktion auf dieses Foto erlebt hatte. Die Art, wie sie das Papier in ihrer Faust zusammengeknüllt und schließlich zu Boden geschleudert hatte, während in ihren Augen Wut und Entsetzen um die Oberhand rangen. Mayer schlug den Kragen seines Mantels hoch und wandte sich vom Wasser ab, versuchte, die Kälte zurückzulassen. Er hatte sich die Szene immer wieder angesehen und war sich schließlich sicher gewesen,
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