Machtlos
dass sie ihm nichts vorgespielt hatte. Vielleicht hatte er auch nur an ihre Unschuld glauben wollen.
Das amerikanische Generalkonsulat tauchte aus dem Schneetreiben vor ihm auf. Es wurde oft als »das Weiße Haus an der Alster« bezeichnet. Tatsächlich wiesen die beiden im klassizistischen Stil des 19. Jahrhunderts gebauten und nach dem Zweiten Weltkrieg durch einen imposanten Säulengang miteinander verbundenen Häuser eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Regierungssitz der Amerikaner in Washington auf. Mayer zückte seinen Ausweis, als er an die Absperrgitter trat, die seit dem 11. September 2001 alle diplomatischen Vertretungen der USA in Deutschland umgaben. Die Hamburger waren damals aufgebracht gewesen, weil sie aus diesem Grund eine ihrer schönsten Straßen nicht mehr befahren und das Alsterufer vor dem Konsulat nicht mehr betreten durften. Mittlerweile hatte sich die Aufregung gelegt. Die Hamburger hatten sich an die Maßnahme gewöhnt. Es war ein interessantes Phänomen, wie die Menschen mit der Beschränkung ihrer Freiheit umgingen. Mayer hatte das in den vergangenen Jahren immer wieder feststellen können. Erst gab es Proteste, je nach Region friedlich oder gewalttätig, aber nach einer Weile etablierte sich die Einschränkung und wurde schleichend zu einem Teil des Alltags, an dem sich niemand mehr wirklich störte.
Mayer war einer der Letzten, der im Besprechungsraum eintraf. Burroughs war, wie erwartet, bereits da. Der hochgewachsene Amerikaner stand etwas abseits, ein Glas Orangensaft in der Hand, an dem er nur nippte.
Mayer spürte die Spannung im Raum. Sie war beinahe greifbar, ein tanzender Derwisch, der hier eine Geste und dort einen Tonfall veränderte, der gezwungenes Gelächter hervorbrachte und das Adrenalin in ihrem Blut zirkulieren ließ. Jeder von ihnen war derzeit ein potentieller Kandidat für einen Herzinfarkt. Die Belastung war enorm. Die Bedrohung angesichts eines Feindes, den sie nicht greifen konnten. Der irgendwo in dieser Stadt darauf wartete, zuzuschlagen. Versteckt und unauffällig.
»Es gehört schon einiges dazu, in diesen Tagen nicht paranoid zu werden, nicht wahr?«, hörte er eine Stimme neben sich. Marion Archer, die einzige Frau unter ihnen, reichte ihm eine Kaffeetasse und begrüßte ihn mit einem Lächeln. Mayer fragte sich, wie viel weibliche Intuition in dieser Frage lag oder ob sie tatsächlich Gedanken lesen konnte, wie manche seiner Kollegen behaupteten.
»Gehört es nicht zu unserem Job, paranoid zu sein?«, erwiderte er.
In ihren Augen sah er, dass sie ihm diese vordergründige Leichtigkeit nicht abnahm, und lächelte ebenfalls. Er mochte die blonde, schlanke Kanadierin, die sich trotz der Strenge, die sie gern zur Schau trug, eine gewisse Natürlichkeit bewahrt hatte, eine Geradheit, die er bei so manchem seiner männlichen Kollegen vermisste.
»Paranoia impliziert Angst, und die wiederum ist in unserem Beruf eher hinderlich. Sie trübt das Urteilsvermögen«, bemerkte sie. »Ebenso wie Wut.« Archer vermied es, in die Runde zu schauen, aber Mayer wusste auch so, auf wen sie anspielte. Schließlich hatte auch er sich schon des Öfteren gefragt, ob Burroughs der richtige Mann war auf dem Posten, den er bekleidete. Vor Gericht hätte man ihn vermutlich als befangen abgelehnt.
»Er ist einer der besten Terror-Experten der Agency«, sagte er dennoch.
Archers feine Brauen zuckten kurz nach oben. »Das mag ja sein, aber hätte es nicht gereicht, ihn als Spezialisten hinzuzuziehen, statt ihn gleich zum
Chief of Station
zu machen und ihm damit die Verantwortung für die amerikanischen Aktivitäten vor Ort zu übertragen?«
»Es mangelt ihm an der nötigen Diplomatie für diese Aufgabe«, gab Mayer zu. Burroughs’ burschikose und bisweilen auch selbstherrliche Art, Probleme anzugehen, war nicht unbedingt förderlich, selbst wenn ihm der Erfolg in dem ein oder anderen Fall recht gab. »Vielleicht hat er den Posten lediglich erhalten, um seine diplomatische Immunität zu gewährleisten.« Er sagte es im Scherz, doch Archer stand nicht der Sinn danach.
»So wie er sich verhält, könnte man es fast glauben«, bemerkte sie kühl. »Ich fürchte jedoch, es braucht ein bisschen mehr als einen Terror-Experten, um die Interessen der einzelnen Staaten über die Grenzen hinweg effektiv zu bündeln.« Ihre Finger schlossen sich bei ihren Worten fester um die Fensterbank, an der sie lehnte. Er war sich sicher, dass sie an Kopenhagen dachte. Sie hätten den
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