Machtlos
die kurze Begegnung mit Valerie wieder und immer wieder. Wie ein DVD -Player in einer Endlosschleife. Und jedes Mal rückte ein anderes Detail in den Vordergrund. Der Klang ihrer Stimme, ihr Blick, die wenigen Worte, die sie gewechselt hatten. Sie zu sehen, zu berühren und dann gleich wieder zu verlieren war beinahe schlimmer gewesen, als überhaupt nicht an sie heranzukommen.
Im Leinpfad war der Parkplatz vor dem Grundstück frei. Er stellte den Wagen dort ab, anstatt ihn in die Garage zu fahren. Im Haus war es still. Die Mädchen schliefen schon, und Janine kam ihm aus der Küche entgegen. Sie nahm ihren Mantel und versprach, Leonie und Sophie am nächsten Tag von der Schule abzuholen. Seit die Mädchen auf der Straße angesprochen worden waren, ließ Marc sie nicht mehr allein vor die Tür. Janine fragte nie nach, auch wenn sie ahnen, spüren musste, dass etwas nicht in Ordnung sein konnte. Er rechnete ihr diese Zurückhaltung hoch an. Ebenso ihre Zuverlässigkeit. Als er die Tür hinter ihr schloss, hielt er einen Moment inne und lauschte ihren sich entfernenden Schritten. Dann warf er einen Blick in das Zimmer der Mädchen. Sie hatten ihre Betten zusammengeschoben und lagen dicht aneinandergekuschelt in einem Meer von Stofftieren. Manchmal beneidete er sie um ihre Zweisamkeit.
In der Küche lag die Tageszeitung auf dem Tisch. Auf der Titelseite prangte das Bild Safwan Abidis, der als der »Attentäter vom Dammtor« in die Hamburger Geschichte eingehen würde. Auf allen Radio- und Fernsehkanälen war die Berichterstattung über seine Festnahme und seinen Tod am Vortag das Thema des Tages gewesen, und heute gehörten ihm die Titelseiten sämtlicher Tageszeitungen. Die Boulevard-Presse überschlug sich mit anti-islamischen Parolen auf schwarzem Grund. Marc hatte fassungslos den Jubel und die Erleichterung seiner Mitmenschen verfolgt, der Kollegen im Büro, der Nachbarn. Es war eine kollektive Freude, die Hamburg erfüllte. Marc war vermutlich der Einzige der zwei Millionen Einwohner dieser Stadt, der diese Freude nicht teilen konnte. Der ungläubig den Berichten lauschte, als er begriff, was Mayers Besuch in seinem Büro bedeutet hatte.
Ihre Frau ist dabei, einen großen Fehler zu machen. Sie dürfen sie nicht gewähren lassen.
Und wieder hatte er sich gefragt: Was hatte Valerie getan? Hatte sie versucht, einem Attentäter zur Flucht zu verhelfen? War sie womöglich auch tot, erschossen von einem übereifrigen Polizisten, so wie Abidi?
Meisenberg hatte ihn beruhigen können. »Sie lebt«, hatte er ihm am Telefon mitgeteilt, nach endlosen Stunden des Wartens. »Aber sie ist in ernsten Schwierigkeiten. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß.«
Marc hatte jede Zeitung gekauft, jeden Bericht gelesen, immer in der Angst, auf ihren Namen oder ihr Gesicht zu stoßen. Aber ihr Name tauchte nicht auf. Nach der Lektüre wusste er nahezu alles über Safwan Abidi, zumindest gaben ihm die Medien dieses Gefühl. Er fragte sich, warum ein palästinensischer Chirurg, der in einem Kopenhagener Krankenhaus angestellt war und keine Verbindung zu fundamentalistischen islamischen Gruppierungen pflegte, zum Attentäter wurde. Und ob er der Einzige war, der darüber nachdachte. Und ob seine Gedanken lediglich daher rührten, dass seine Frau mit diesem Chirurgen vor drei Jahren eine Affäre und ihm jetzt womöglich zur Flucht verholfen hatte. Ob er nach Entschuldigungen suchte.
Auf allen Kanälen liefen Sondersendungen, die Hintergründe beleuchteten und vermeintliche Experten zu Wort kommen ließen. Irgendwann hatte Marc beschlossen, dass er genug gesehen und gehört hatte, und dann war endlich Meisenbergs ersehnter Anruf gekommen. »Valerie ist in Ochsenzoll.« Keine Erklärung. Nichts weiter. Nur eine Zimmernummer. Und Marc hatte alles stehen und liegen lassen und war rausgefahren. Warum Ochsenzoll? Psychiatrie? Was war passiert?
Er war genau bis zur Eingangstür des Gebäudes gekommen, in dem sie untergebracht war. Ein Polizeibeamter hatte ihm freundlich, aber bestimmt erklärt, dass er keinen Zutritt bekommen würde. Dank einem Zufall und einer unbedarften Krankenschwester, die für eine Rauchpause das Gebäude verließ, erfuhr er, dass Valerie gegen zwanzig Uhr dreißig abgeholt werden sollte. Er fuhr nach Hause, aufgeregt bis in die Fingerspitzen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Und hätte sie um Haaresbreite verpasst.
Nun war sie wieder fort. Was blieb, war eine unerträgliche Einsamkeit. Er fragte sich, ob sie
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