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Machtlos

Machtlos

Titel: Machtlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Berg
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Bäumen vom herannahenden Morgen. Aus den Dielen kroch Kälte über seine Füße an seinen Beinen empor, und auf den Fensterscheiben wuchsen Eisblumen, seltsame Gebilde, keines wie das andere.
    An jenem Morgen, als sie seinen Vater nach Hause gebracht hatten, hatten auch Eisblumen die Fenster ihres Hauses verziert. Er hatte darauf gestarrt und ihre verschlungenen Linien mit seinen Augen nachgezeichnet, um nicht auf den Mann in dem Rollstuhl blicken zu müssen, dessen Uniform weder seinen verkrüppelten Körper noch das entstellte Gesicht verbergen konnte. Sie hatten ihn gezwungen, diesen Fremden zu umarmen, ihn »Dad« zu nennen. Er hatte ihm nicht in die Augen sehen können, diesem Wesen, das nicht einmal der Schatten des Mannes war, den er geliebt und verehrt hatte. Mit dem er um die Wette gelaufen und Flöße auf dem Fluss gebaut hatte. Der ihm das Jagen beigebracht hatte. Jetzt konnte er nicht einmal mehr alleine pinkeln. Ungewollt war er Zeuge geworden, wie seine Mutter ihm die Windeln gewechselt hatte, und er hatte Ekel und Scham empfunden. Und ein ungeduldiges Mitleid mit seiner Mutter. Sie opferte sich auf in der Pflege für diesen Mann und dekorierte die Auszeichnungen, die ihm die Armee verliehen hatte, auf dem Kaminsims wie auf einem Altar. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie von ihrem Sohn erwartete, dass er in die Fußstapfen seines Vaters trat, und gab erst Ruhe, als er auf derselben Militärakademie aufgenommen wurde, die auch sein Vater besucht hatte. Robert F. Burroughs hatte sich gefügt. Nicht aus Überzeugung, sondern weil es die erstbeste Gelegenheit gewesen war, sein Elternhaus und somit das langsame Sterben seines Vaters hinter sich zu lassen. Er war nie wieder zurückgekehrt. Hatte nie von seinen Eltern gesprochen, und nach einer Weile hatten auch sie aufgehört, nach ihm zu fragen. Selbst Kathy hatte geglaubt, dass sein Vater in Vietnam gefallen und seine Mutter aus Gram darüber gestorben sei.
    Behutsam zog er mit dem Finger die Eisblumen nach und lauschte in die Stille. Der helle Streifen über den Bäumen wurde breiter, und der Schnee schimmerte blau. Seit seiner Kindheit liebte er den Schnee. Unberührter Schnee war für ihn Jungfräulichkeit und Reinheit in ihrer pursten Form. Keine Jahreszeit besaß so viel Klarheit wie der Winter. Mit Kathy und den Kindern war er jedes Jahr zu Weihnachten in die Berge gefahren. Sie hatten in der Einsamkeit seiner Hütte beisammengesessen, und Timothy und Linda hatten Schneemänner gebaut und waren Schlitten gefahren. Kathy hatte die Leere, die nach dem Verlust seines Vaters lange sein Leben bestimmt hatte, vertrieben. Ihretwegen hatte er die Armee verlassen und sich bei der Agency beworben. Ihretwegen und um der Kinder willen. Hinter den Bäumen leuchtete der Horizont. Reglos beobachtete er, wie die Sonne aufging. Es waren nur noch zehn Tage bis Weihnachten. Er hatte in diesem Jahr alle Einladungen für die Festtage ausschlagen müssen. »Ich werde in Europa sein«, hatte er erklärt. Und in den Augen seiner Freunde und Bekannten hatte er jene alte Sehnsucht entdeckt, die Amerikaner schnell befiel, wenn sie an das winterliche Europa dachten. Allerdings nicht an den Teil von Europa, in dem er sich jetzt befand und die Feiertage verbringen würde, zusammen mit einer Söldnertruppe und ihren Gefangenen.
    Er fragte sich, wie Valerie Weymann die Nacht überstanden hatte. Ob Don Martinez’ Begrüßung schon gereicht hatte, um ihren Widerstand zu brechen. Dass Martinez die Frau übernommen hatte, war nicht ganz das, was Burroughs sich vorgestellt hatte. Martinez war gut. Kompromisslos. Aber dieser Mann arbeitete nicht gern im Team und duldete keine Einmischung. Burroughs würde sich ein paar Tage gedulden müssen. Er konnte es sich nicht leisten, dass im Fall Weymann irgendetwas schieflief. Er wandte sich vom Fenster ab und ging unter die Dusche. Rasierte sich und putzte sich die Zähne. Zog sich an. Hemd, Krawatte, Anzug. Es gab Mitarbeiter in der Agency, die im Ausland gern die Kleiderordnung außer Acht ließen. Burroughs gehörte nicht dazu.
    Die Flure waren verlassen, und seine Schritte hallten von dem alten Holzboden wider. Die Agency hatte das Gelände vom rumänischen Militär übernommen, und sie nutzten die Gebäude für die Unterbringung der Mitarbeiter und des Wachpersonals. Burroughs verließ den Wohntrakt. Draußen war die Luft klar und so kalt, dass sein Atem gefror und der Schnee unter seinen Schuhen knirschte. Er blieb stehen und

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