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Machtlos

Machtlos

Titel: Machtlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Berg
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Auge auf. Bilder aus Zeitungen und Magazinen von amerikanischen Gefangenen auf dem Weg nach Guantanamo. Angekettet in Frachtmaschinen, bewacht von Sicherheitspersonal, das nicht den Eindruck machte, als würde es zögern, wenn es darauf ankam. Aber sie brachten keine Gefangenen mehr nach Kuba. Sie brachten sie nur noch nach Bagram in Afghanistan. Das Flugzeug war nicht zwischengelandet. Sie bezweifelte, dass ein Learjet ohne Zwischenstopp von Hamburg nach Afghanistan fliegen konnte. Wo waren sie also?
    Burroughs’ Finger schlossen sich um ihren Arm, zogen sie von ihrem Sitz hoch. Blind und unsicher stolperte sie hinter ihm durch den schmalen Gang. Ihre Finger gruben sich in den Stoff ihres Mantels, als könne sie dort Halt finden, Schutz vor dem, was jenseits der dünnen Hülle des Flugzeugs wartete. Nur einmal in ihrem Leben hatte sie solche Angst verspürt, hatte sie sich so verlassen gefühlt. Sie war noch ein Kind gewesen, nicht älter als vier oder fünf, als sie in der Stadt im Gedränge ihre Mutter verloren hatte. Sie war vor einem Schaufenster stehen geblieben, und als sie sich umgesehen hatte, war ihre Mutter fort gewesen.
    Die Tür zum Cockpit öffnete sich, und das Geräusch riss Valerie aus ihrer Erinnerung an den Tag, an dem sie das erste Mal erfahren hatte, was es hieß, allein zu sein. Nur auf sich gestellt. Der Pilot schob sich an ihnen vorbei. Sie hörte, wie die Luke geöffnet wurde. Eisige Kälte strömte herein, und Burroughs’ Griff um ihren Arm wurde fester. Damals hatte sie dagestanden und hatte gewartet. Hatte in die Gesichter all der fremden Menschen geblickt, in der Hoffnung, doch plötzlich in einem von ihnen ihre Mutter wiederzuerkennen. Und es hatte sie all ihre Kraft gekostet, nicht zu weinen, nicht zu zeigen, wie viel Angst sie hatte.
    Unsicher mit den Füßen tastend, stieg sie die Treppe hinab. Unter dem Rand des Sacks konnte sie etwas Weißes schimmern sehen, gleich darauf knirschte es unter ihren Schuhen, und sie sank bis zu den Knöcheln in Schnee ein. Ein Motorengeräusch näherte sich, und ein Wagen hielt vor ihnen. Eine Tür wurde geöffnet, und jemand begrüßte Burroughs. Es war eine männliche Stimme. Es gab einen schnellen Austausch auf Amerikanisch, dem Valerie zwar folgen, dessen Informationen sie jedoch nicht zuordnen konnte. Von den Sohlen her drang Kälte durch das Leder ihrer Schuhe und kroch an ihren Beinen empor. Valerie bewegte intuitiv ihre Zehen. In diesem Moment stieß Burroughs sie nach vorn. Aus Angst, gegen das Fahrzeug zu fallen, wehrte sie sich.
    »Don’t fuss, goddammed bitch«,
hörte sie ihn fluchen. Es war das erste Mal, dass er mit ihr sprach, seit er sie am Flughafen in Hamburg in Empfang genommen hatte, und Valerie schauderte angesichts der Kälte in seiner Stimme.
    Er drückte sie in den Wagen. Sie musste sich nicht bücken. Also war es ein Van. Die Sitze waren kalt und rutschig. Leder. Burroughs beugte sich über sie, öffnete ihre Handschellen und kettete sie an wie im Flugzeug. Der Sack blieb auf ihrem Kopf. Er setzte sich nicht zu ihr. Türen wurden geschlossen, dann hörte sie seine Stimme von vorn, vom Beifahrersitz. Wieder tauschten er und der Fahrer einige Worte, der Wagen fuhr an, und es ging in halsbrecherischer Fahrt durch die Dunkelheit. Valerie verlor jegliches Zeitgefühl, kämpfte verzweifelt gegen ihre Übelkeit an. Ihre Fesseln schnitten in ihre Handgelenke, wenn der Wagen um Kurven schlingerte oder der Fahrer jäh bremste. Endlich, nach einer Zeitspanne, die sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlte, wurden sie langsamer. Valerie lehnte sich erleichtert zurück. Sie war kurz davor zu erbrechen. Durch den Sack hindurch nahm sie Lichtreflexe wahr. Sie bogen ab. Schließlich hielt der Wagen, fuhr gleich darauf wieder an. Augenblicke später hielt er erneut. Türen wurden geöffnet. Die Luft, die hereinströmte, war eisig und klar. Valerie atmete tief ein, um Übelkeit und Schwindel zu vertreiben. Aber Burroughs – es war doch Burroughs? – ließ ihr keine Zeit, zu sich zu kommen. Er löste die Kette und zog sie aus dem Van. Ihr Gleichgewichtssinn war noch immer gestört, und sie stolperte, rutschte – und fiel. Sie wollte schreien, doch etwas fing sie ab. Es war weich, kalt … Schnee. Er brach über ihr ein, und Kälte umgab sie, eine weiche, sanfte Stille. Burroughs’ schimpfende Stimme war nur noch gedämpft zu hören, und die weißen Kristalle waren überall. Sie schmeckte sie auf ihren Lippen, sie flossen in ihren Nacken,

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