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Machtlos

Machtlos

Titel: Machtlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Berg
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kreuzten. Zwei junge Mädchen, die sich lachend und gestikulierend unterhielten. Eine Frau, bepackt mit Einkaufstaschen, und ein Mann im Anzug, der einen nervösen Blick auf seine Armbanduhr warf. Eine Mutter mit einem Kinderwagen und ein Halbwüchsiger mit Kopfhörern, dessen federnder Schritt sich augenscheinlich dem Takt seiner Musik anpasste. Keiner von ihnen würde ihm glauben, wenn er seine Geschichte erzählte. Sie war einfach zu absurd.
    Die Ampel schaltete auf Grün. Hinter der Kreuzung tauchte der Dammtorbahnhof auf. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fuhr Marc rechts ran, hielt am Ende einer Bushaltestelle und schaltete den Warnblinker ein. Schneeflocken legten sich auf seinen Mantel, als er auf das Gebäude zuging, das sich vor ihm in den bedeckten Himmel erhob. Bei Tageslicht waren das geborstene Dach und die verkohlten Schaufenster schon von weitem zu sehen. Ein beißender Geruch hing selbst vier Tage nach der Explosion und dem Brand noch in der Luft. Das ganze Areal war mit Gittern abgesperrt. Dahinter waren die Aufräumarbeiten in vollem Gang. Lastwagen transportierten den Schutt ab und brachten neues Material. Oben in der Bahnhofshalle sah Marc das Leuchten und Blitzen der Schweißgeräte. Direkt vor ihm lagen die Trümmer des flachen Restaurantgebäudes. Im letzten Sommer hatten sie hier zusammen mit den Mädchen nach einem Besuch von Planten und Blomen Eis gegessen.
    Ein Stück weiter entdeckte er eine Frau in einem dunklen Anorak. Sie war eben noch nicht dort gewesen. Bewegungslos starrte sie auf die Unglücksstelle. Dann bückte sie sich und legte etwas am Zaun ab. Marc war zu weit weg, um ihr Gesicht erkennen zu können, aber ihre Körperhaltung vermittelte ihm, dass sie weinte. Er wandte den Blick ab. Als er wieder hinsah, war sie fort. Langsam ging er hinüber. Am Fuß des Zauns stand ein Glas mit einer brennenden Kerze darin. Daneben lag eine einzelne rote Rose. Marc wünschte sich plötzlich, er hätte mit der Frau gesprochen und wäre nicht allein in seinem Kummer und seiner Trauer. Mit seiner Angst davor, wie es weitergehen würde.
    Er sah zurück zum Bahnhof. Wie viel Verantwortung trug Valerie für das, was hier geschehen war? Für die Toten und Schwerverletzten? Die trauernden Hinterbliebenen?
    Ich hab nichts mit alldem zu tun … Glaub mir, bitte, glaub mir …
    In dem Moment, als er Valerie gegenübergestanden hatte, hatte er ihr geglaubt. Später waren die Zweifel zurückgekommen. Was er über sie und Abidi erfahren hatte, hatte ihn tiefer getroffen, als er zunächst hatte wahrhaben wollen. Er hatte sich in den vergangenen Tagen mehr als einmal gefragt, wer die Frau eigentlich war, mit der er seit zwölf Jahren verheiratet war. Wie gut kannte er sie wirklich? Sein Leben fühlte sich genauso zerbombt an wie das Restaurant auf der anderen Seite des Zauns. Er wusste nicht mehr, was Wahrheit war, was Lüge. Und er vertraute niemandem, nicht einmal Meisenberg. Aber er durfte nicht aufgeben. Schon wegen Sophie und Leonie nicht. Selbst wenn er an seiner Frau zweifelte, so hatten sie doch ein Anrecht auf ihre Mutter. Was sollte er jetzt tun? Konnte er etwas tun?
    Die Fußgänger an der Ampel kamen ihm wieder in den Sinn. Die lachenden Mädchen, der Mann im Anzug und die Frau mit den Einkaufstaschen. Wenn es ihm gelänge, ihnen seine Geschichte so zu erzählen, dass sie ihm glaubten … Er spürte, wie die Starre, die ihn seit Tagen blockierte, Risse bekam, wie sich etwas regte unter der Oberfläche. Er musste herausfinden, wo Valerie war. Er musste Menschen finden, die ihn unterstützten. Er musste an die Öffentlichkeit gehen. Er durfte nicht länger schweigend abwarten. Valerie war nicht tot, sie lebte, atmete, und er durfte sie nicht ihrem Schicksal überlassen. Was auch immer sie getan hatte.
    Er warf einen Blick auf seine Uhr. Dann zog er sein Handy aus der Jackentasche und rief Janine an. »Ich komme eine Stunde später.« Er würde auch mit ihr reden müssen. Und den Mädchen. Mit ihnen zuallererst.
     
    »Du willst eine außerordentliche Sitzung des Vorstands
und
des Aufsichtsrates einberufen?« Torsten Mertz, in der Riege der Vorstandsmitglieder der Reederei Marcs engster Vertrauter, schob die Hände in die Taschen seiner Anzughose und wandte sich vom Fenster ab. »Was ist passiert?«
    »Es geht nicht um die Firma. Aber ich muss euch offiziell etwas mitteilen, bevor ihr es über die Medien erfahrt. Es betrifft Valerie …« Es fiel ihm schwer. Marc suchte nach Worten, und

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