Machtlos
Zornesfalte bemerkte, die sich zwischen seinen Brauen bildete. »Sie befinden sich hier in der Redaktion einer Tageszeitung«, sagte der Mann. »Es ist kurz vor Weihnachten. Wir haben keine Kapazitäten frei, um uns verschwundenen Ehefrauen zu widmen. Warum kommen Sie nicht im Januar wieder? Nach dem Gipfel? Dann sind wir dankbar für jede Idee …«
Dann ist meine Frau vielleicht schon tot, wollte Marc ihm an den Kopf werfen. Aber er stand nur auf und verließ wortlos das Büro.
Warum kommen Sie nicht im Januar wieder? Nach dem Gipfel?
Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit Zynismus. Er hatte dem Redakteur nicht erzählt, dass seine Zeitung nach zwei Fernsehsendern bereits das dritte Blatt war, das ihn abgewiesen hatte. Es war, als renne er gegen eine Wand. Nein, es war nicht nur eine Wand. Überall, wohin er sich wandte, tauchten Wände auf. Niemand wollte ihm zuhören, ihm Glauben schenken. Alle nahmen an, er hätte den Verstand verloren. Nur einige wenige, wie Torsten Mertz oder Janine, glaubten ihm.
Glaubten sie ihm wirklich?
Oder hielten auch sie ihn insgeheim für einen armen Irren, der nicht wahrhaben wollte, dass ihm die Frau weggelaufen war, und der nun eine phantastische Geschichte um Agenten und Geheimdienste erfand?
Mit langen Schritten eilte er die Straße entlang, ohne zu sehen, wohin er ging. Eisiger Wind schlug ihm entgegen, suchte sich seinen Weg durch den dicken Stoff seines Mantels und kühlte sein erhitztes Gemüt allmählich wieder ab. Mit Wut im Bauch würde er überhaupt nichts erreichen. Er brauchte einen klaren Kopf und Beweise. Solange er nicht beweisen konnte, was mit Valerie geschehen war, würde er keine Unterstützung finden. Aber an wen konnte er sich wenden?
Meisenberg war nicht zu erreichen. Er hatte es bereits mehrmals versucht, und es war fraglich, ob der Anwalt ihm Informationen gab, wenn er befürchten musste, dass Marc damit an die Öffentlichkeit ging. Meisenberg hatte ihn ausdrücklich vor einem solchen Schritt gewarnt. Marc konnte nicht beurteilen, ob eigene Interessen des Anwalts dahintersteckten oder ob er geahnt hatte, dass sich die Presse aus politischem Kalkül weigern würde, sich mit der Thematik zu befassen. Denn dass mehr hinter der kollektiven Weigerung der Medien steckte als nur die knappe Personaldecke oder – wie es die Fernsehsender begründet hatten – der nicht vorhandene Programmplatz vor den Weihnachtstagen, war Marc sofort klar geworden. Er blieb stehen und atmete tief durch. Dabei fiel sein Blick auf das Plakat einer Menschenrechtsorganisation, das vor ihm auf einer Litfaßsäule klebte.
»Ich glaube Ihnen«, sagte die Frau in dem schmucklosen Büro. Sie hatte sich als Franka von Sandt vorgestellt. Hinter ihr reihten sich Ordnerrücken in einem Baumarktregal aneinander, und durch das einzige Fenster, auf dessen Sims eine Topfpflanze kümmerte, fiel der Blick auf die typische rote Backsteinarchitektur Hamburg-Barmbeks.
»Endlich!«, entfuhr es Marc. »Endlich glaubt mir jemand!« Nach den Erlebnissen der vergangenen Tage war er so überrascht über ihr Vertrauen und die selbstverständliche Ruhe, mit der sie ihm zuhörte, dass ihm die Worte fehlten. Sie nickte kurz und lächelte versichernd, und daran erkannte er, dass ihr solche Situationen nicht fremd waren. Menschen, die in diesem Büro strandeten, waren getrieben von Verzweiflung und Sorge um ihre Angehörigen oder Freunde.
Er hatte ihr die ganze Geschichte erzählt. Von Mahir Barakats Verhaftung und Noors Verschwinden. Von Valeries Unterstützung für ihre Freundin in den vergangenen Jahren und ihrer Affäre mit Abidi. Er hatte die Ereignisse der letzten Tage seit Valeries Verhaftung zusammengefasst, auch seine verzweifelten Versuche, sich Gehör zu verschaffen, nicht verschwiegen. Sie hatte ihn nicht unterbrochen, sich nur hin und wieder eine Strähne ihres graudurchzogenen Haares aus dem Gesicht gestrichen und Notizen gemacht. Dann hatte sie ihn angesehen und gesagt: »Ich glaube Ihnen.«
Das Gefühl von Erleichterung gepaart mit Dankbarkeit war so stark, dass es ihm beinahe die Tränen in die Augen trieb. Ausgerechnet ihm.
»Ich weiß nicht, ob meine Frau schuldig oder unschuldig ist, aber selbst wenn sie tatsächlich etwas getan haben sollte, hat sie Anspruch auf ein ordentliches Verfahren vor einem deutschen Gericht«, brach es aus ihm heraus. »Es kann nicht sein, dass ein ausländischer Geheimdienst sie einfach verschleppt.«
Franka von Sandt faltete ihre Hände vor
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