Machtlos
ihre Büros lagen, war noch weitgehend still und dunkel. Keine Telefone klingelten in den Büros, keine Mitarbeiter huschten mit hektischem Gesichtsausdruck durch die Flure.
Mayer hatte sich aus der Kantine einen Kaffee mitgebracht, den er auf die Ecke seines Schreibtisches stellte. Er hängte seinen Mantel hinter die Tür und sah einen Moment aus dem Fenster, bevor er sich setzte und den Aktenordner zur Seite schob, den er am Vorabend auf seinem Platz hatte liegenlassen. Seitenweise Papier, das keiner braucht, hatte Florian Wetzel gesagt, und er hatte recht damit. In all dem Papierwust, der zu jedem Fall angelegt wurde, konnte man sich leicht verlieren. Oder Entscheidendes übersehen. Wie die Fotografie Abidis vom Flughafen. Mayer stellte seinen Laptop auf den Tisch und klappte ihn auf. Er öffnete die Fotodatei und betrachtete die Aufnahme nachdenklich. Dann stellte er das Bild daneben, das die Überwachungskamera auf dem Gleis des Dammtorbahnhofs von Abidi gemacht hatte – die Reflexion seines Gesichts in der Glasscheibe der Anzeigentafel. Die An- und Abfahrtszeiten schnitten durch die Gesichtszüge des Libanesen. Aber die Aufnahme war scharf genug, um ihn zweifelsfrei zu identifizieren.
Am Flughafen war er in ein Taxi gestiegen. Sie hatten den Fahrer ausfindig gemacht, und er hatte sich an Safwan Abidi erinnert. »Er hatte kein Bargeld dabeigehabt, zumindest keine Euro, und mit Kreditkarte bezahlt«, hatte er bei seiner Vernehmung zu Protokoll gegeben. Auch das konnten sie nachprüfen. Eine Zahlung von siebzehn Euro an die Taxigesellschaft mit passendem Datum belastete Safwan Abidis Kreditkartenkonto. Er hatte sich zu einer Adresse in Poppenbüttel fahren lassen, einem Stadtteil in den Randbezirken der Hansestadt, im Berufsverkehr eine gute halbe Stunde vom Dammtorbahnhof entfernt. Sie hatten die Adresse überprüft. Es war eine kleine Pension. Die Wirtin hatte Abidis Ankunft bestätigt. Auch das machte Sinn. Abidi war aus Kopenhagen verschwunden, um unterzutauchen. Er würde weder in einem großen Hotel absteigen noch bei jemandem, den er kannte, wie zum Beispiel den al-Almawis, die in der Hochallee in ihrer geräumigen Villa Gästen auch längerfristig Quartier bieten konnten.
Mayer zoomte das Bild der Überwachungskamera vom Dammtor heran, bis es dieselbe Größe hatte wie die Fotografie vom Flughafen. Es war Abidi. Es gab keinen Zweifel, nicht den geringsten Unterschied, nur der Winkel der Aufnahme war ein anderer. Mayer nahm einen Schluck Kaffee. Das Foto vom Dammtor zeigte Abidi frontal. Auf der Aufnahme vom Flughafen dagegen war er leicht von oben zu sehen. Mayer begann, die Bilder Zentimeter für Zentimeter miteinander zu vergleichen. Und dann fand er es und fragte sich, wie er es die ganze Zeit hatte übersehen können. Abidi hatte weder einen Zwillingsbruder noch einen Doppelgänger. Aber er hatte einen kleinen, unscheinbaren Leberfleck unter dem rechten Auge, verborgen fast im Augenwinkel. Mayer starrte lange darauf. Trank seinen Kaffee und spürte dem Gefühl nach, das sich in ihm ausbreitete. Niemand hatte es bemerkt. Sie waren zu aufgeregt gewesen, zu sicher, dass Abidi, der ja schon für Kopenhagen verantwortlich gewesen sein sollte, der Täter war. Sie hatten es an der nötigen Sorgfalt fehlen lassen, und das hatte den Palästinenser das Leben gekostet. Mayer griff zum Telefon.
Jochen Schavan runzelte die Stirn, als er auf das Gesicht Abidis starrte, das Mayer im Besprechungsraum mit einem Beamer an die Wand geworfen hatte, und es mit der Aufnahme vom Flughafen verglich. »Sie haben recht«, sagte er zu Mayer. »Wenn es sich um eine Reflexion von Abidis Gesicht handeln würde, müsste dieser Leberfleck am Auge auf der anderen Seite sein.«
Wenn es nicht so absurd wäre, würde ich fast sagen, das hat jemand inszeniert, um uns aus der Spur zu werfen.
Archers Worte. Sie hatte sie bezüglich der beiden Terrorverdächtigen aus Harburg geäußert, aber waren sie auf diese beiden jungen Männer nicht aufgrund ihrer losen Verbindungen zu Safwan Abidi gestoßen?
Schavan hatte bereits das Handy am Ohr. »Findet heraus, ob der Glaskasten auf dem S-Bahn-Gleis am Dammtorbahnhof noch steht. Ja, genau der, vor dem die Aufnahme von Abidi gemacht wurde.«
Wetzel kam in den Raum mit einem Tablett voller Kaffeetassen. Er grinste breit. »Wann wollen Sie unsere Ausländer informieren?«, wollte er wissen und zog mit Nachdruck die Tür hinter sich ins Schloss.
»Wenn wir alle Informationen
Weitere Kostenlose Bücher