Machtlos
zitterten plötzlich. Die dunkelsten Bilder der letzten Wochen tauchten wieder auf. Wurden lebendig. »Das … bedeutet nichts Gutes, nehme ich an.«
»Nein«, erwiderte Meisenberg nur.
Marc schluckte gegen den Kloß in seinem Hals an. »Meinen Sie, sie ist …« Er konnte nicht weitersprechen, es nicht aussprechen.
»Wir müssen es in Betracht ziehen.«
Marc schloss die Augen. »Ich glaube es nicht. Ich will es nicht glauben«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Meisenberg.
Dieser räusperte sich am anderen Ende der Leitung. »Es ist wichtig, dass Sie die Hoffnung nicht aufgeben. Aber seien Sie bitte auf das Schlimmste vorbereitet.«
Das Handy wog schwer wie ein Stein in seiner Hand. Er starrte auf den Stapel schmutzigen Geschirrs in der Spüle und durch das Fenster auf die verschneite Landschaft der Heide, ohne all das wirklich zu bemerken. Langsam ließ er das Telefon zurück in seine Tasche gleiten, stützte sich auf den Rand des Spülsteins und atmete gegen den Schmerz an.
Seien Sie bitte auf das Schlimmste vorbereitet.
Das Schlimmste.
Er weigerte sich, überhaupt darüber nachzudenken. Das waren nur Mutmaßungen. Er wusste nichts. Überhaupt nichts. Und solange er nichts wusste, würde er weitermachen wie bisher. Aber er konnte nicht zu den anderen zurückgehen. Leonie und Sophie würden spüren, dass etwas geschehen war. Und er sah Catrins und Tomas’ fragende Gesichter vor sich. Wie sollte er ihnen begegnen? Er würde ihr Mitgefühl nicht ertragen können. Genau jetzt nicht. Er konnte jetzt niemanden ertragen. Er hörte sie im Wohnzimmer miteinander sprechen. Die hohen Stimmen der Kinder hallten durch die Diele bis in die Küche. Sie lachten. Alles in Marc zog sich zusammen. Er eilte in den Flur und griff nach seiner Jacke. Gleich darauf umfing ihn die frühe Dämmerung des Wintertages. Die eisklare Luft schmerzte in seinen Lungen, und Schnee suchte sich den Weg in seine Schuhe. Er ignorierte alles. Zwei Stunden lang wanderte er allein über die einsamen Pfade, versuchte er, mit sich ins Reine zu kommen und gleichzeitig einen Weg zu finden, den anderen zu begegnen. Über seine Ängste zu sprechen. Seine Verzweiflung. Es konnte, es durfte nicht sein, dass Valerie nicht zu ihm zurückkehrte. Es war undenkbar und deswegen auch nicht wahr. Sonst würde es sich anders anfühlen. Doch bereits am nächsten Tag konkretisierte sich der Verdacht, dass sie tot war. In der Nähe des amerikanischen Lagers war eine Leiche gefunden worden. Die Leiche einer Frau.
* * *
Eric Mayer betrachtete den Leichnam auf dem Tisch des Rechtsmedizinischen Instituts. Das Gesicht war nicht mehr als ein undefinierbarer Klumpen aus Knochen und Fleisch, angetrocknetem Blut und ersten Spuren von Verwesung. Es sah aus, als habe jemand mit dem Hammer darauf eingeschlagen, bis es nur noch eine breiige Masse war. Er spürte den Blick des Pathologen auf sich. »Kein schöner Anblick«, sagte der Mediziner. »Aber die Frau war zumindest schon tot, als das passiert ist.« Er räusperte sich. »Ich habe Röntgenaufnahmen gemacht, von denen ich Ihnen gern einige zeigen würde.«
Mayer nickte und folgte ihm. Der tote Körper blieb allein zurück, beinahe verloren auf dem kalten Metalltisch. Ein trauriger Überrest menschlichen Lebens.
»Ich habe mich zu den Aufnahmen entschlossen, weil ihr Körper an verschiedenen Stellen Hämatome aufweist«, erklärte der Pathologe. »Ich konnte bei der Obduktion auch feststellen, dass sie eine innere Blutung hatte aufgrund eines Nierenrisses, ausgelöst vermutlich durch einen gezielten Schlag oder Tritt.«
»Ist sie daran gestorben?«
»Nein, das hätte sie vermutlich überlebt, wenn sie behandelt worden wäre. Sie ist an einer Überdosis eines Anästhetikums gestorben, das ihr intravenös gespritzt wurde. Es hat zum Herzstillstand geführt. Wir konnten Reste davon im Blut nachweisen.«
Der Pathologe schaltete die Lampenschirme für die Röntgenbilder ein und hängte mehrere Aufnahmen daran. »Sie sehen hier nicht behandelte Frakturen der Finger- und Mittelhandknochen, die darauf schließen lassen, dass sie vor ihrem Tod schwer misshandelt wurde.« Er sah Mayer ernst durch die Gläser seiner dicken Brille an. »Es gibt in Hamburg einen Radiologen, der seit dreißig Jahren Röntgenaufnahmen von Folteropfern zusammenträgt und katalogisiert. Ich würde ihm diese Aufnahmen gern zeigen und sie von ihm beurteilen lassen.«
»Wir müssen erst die Identität der Frau klären«, erwiderte Mayer. Die
Weitere Kostenlose Bücher