Machtlos
liebevoll an.
Hartmut entging das nicht.
Victoria riss sich von Jaromirs Augen los, setzte ebenfalls ein Lächeln auf und versuchte ihre Stimme ungezwungen klingen zu lassen, als sie fragte: „Und, habt ihr gut hergefunden?“
„Ja“, antwortete ihre Mutter, während ihr Blick noch immer beeindruckt durch die Eingangshalle wanderte. „Papa hat sich in der letzten Woche so ein Navigations-Dings gekauft.“ Ihre Gedanken überschlugen sich förmlich. Sie fragte sich, was die Nachbarinnen sagen würden, wenn sie sie hier so sehen könnten. Und die Frau vom Schlachter erst! Die hielt sich immer für was Besseres. Deren Gesicht würde sie ja zu gern sehen.
Albert trat nun diskret neben Victoria. Mit einer angedeuteten Verbeugung fragte er: „Wann darf ich den Kaffee und den Tee servieren, Frau Abendrot?“
Victoria sah in seinen Gedanken, dass er sich diesmal ganz bewusst an sie und nicht an Jaromir gewandt hatte. Sie lächelte und antwortete freundlich: „In ein paar Minuten wäre es prima. Ich denke, wir gehen gleich hoch. Vielen Dank, Albert.“
Giesela hatte ihre Augen ungläubig aufgerissen und meinte zu träumen. Ihre Tochter ging so selbstverständlich mit diesem Albert um, als wäre sie mit Personal aufgewachsen. „Wenn ihr Verlobter soo lebt, wie wird dann erst die Hochzeitsfeier ausfallen? Und wer steht auf der Gästeliste?“
Hartmut imponierte das alles weit weniger und er versuchte herauszufinden, ob sich Victoria in diesem düsteren Gemäuer wirklich wohlfühlte. Er fand die große Halle jedenfalls trotz der exquisiten Ausstattung bedrückend.
„Na, dann gehen wir am besten hoch in den weißen Salon“, brach Jaromir das entstandene Schweigen. Er deutete auf die Treppe und fragte im Plauderton: „Und welches Navigationssystem hast du dir zugelegt, Hartmut?“
„Ach, ein Arbeitskollege hat mir da was empfohlen. Ich kenne mich mit solchen Sachen gar nicht so gut aus. Aber praktisch sind die Dinger ja schon“, erzählte Victorias Vater während er neben Jaromir die Treppe hinauf stieg. „Wenn es dich interessiert, zeige ich dir das gute Stück später.“
Die Männer unterhielten sich über die Vorzüge von Navigationsgeräten und Victoria und Giesela folgten ihnen schweigend.
Als sie den weißen Salon betraten, atmete Hartmut innerlich auf. Es ging ihm genau wie Victoria vor ein paar Monaten. Der helle, freundliche Raum gefiel ihm viel besser als die dunkel vertäfelten Flure und die düstere Eingangshalle. Er blickte lächelnd zu Victoria hinüber.
Giesela war ebenfalls sehr angetan. Sie sah sich im Geiste schon in einem eleganten Kleid umringt von ihren staunenden Geschwistern und Freundinnen, während sie ihnen stolz von ihrem Schwiegersohn erzählte. Jaromir war ihr zwar noch immer unheimlich, aber dieses Haus beeindruckte sie so sehr, dass sie das im Moment gar nicht wahrnahm. Ihre Tochter würde einen reichen Mann heiraten! Victoria würde nie Geldsorgen haben, wie Hartmut und sie am Anfang ihrer Ehe.
Victoria versuchte, die Gedanken ihrer Mutter auszublenden und verstärkte ihren mentalen Schutz.
„Sie freut sich für dich, weil du es leichter haben wirst, als sie selbst“ , versuchte ihr Gefährte sie zu trösten.
„Das mag sein. Trotzdem wird sie vor all ihren Bekannten mit dir angeben. Manchmal ist sie soo oberflächlich…“ Victoria wollte nicht weiter darüber nachdenken. Sie hoffte, dass ihrem Vater ihre Anspannung nicht auffiel.
Dann drehte sich Giesela lächelnd zu Jaromir um und sagte: „Herr Custos Portae, mein Mann und ich haben uns auf dem Weg hierher gefragt, ob wir Ihre Eltern heute kennenlernen werden?“ Sie deutete auf den Tisch. „Wie ich sehe, sind wir heute zu fünft.“
Jaromir lächelte. „Leider werde ich Ihnen meine Eltern nicht vorstellen können, denn sie sind gestorben, als ich vier Jahre alt war.“
Schweigen.
„Das tut mir sehr leid“, gab Giesela ehrlich betroffen zurück. „Der arme Mann“ , dachte sie mitfühlend. „Vielleicht ist er ja deswegen so abweisend… Musste ohne Mutter und Vater aufwachsen.“ In ihrem Geist stiegen Erinnerungen an die Jahre auf, als Max und Victoria noch klein waren. All die durchwachten Nächte, die vielen Stunden, in denen die armen Kleinen krank gewesen waren und jemanden gebraucht hatten, der sie liebevoll in den Arm nahm und einfach nur für sie da war. Darunter mischten sich Gedanken an vergnügte Spieleabende, gemeinsame Urlaube und Geburtstagsfeiern. Und Freude über Kinder, die stolz ihre
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