Machtlos
Schwimmabzeichen und Bastelarbeiten präsentierten oder von Erfolgen im Fußballverein berichteten. Trost beim ersten Liebeskummer und Tipps gegen Prüfungsangst beim Abitur. Es gab so vieles, was sie gemeinsam mit ihrem Mann mit den Kindern geteilt hatte. Sie beide waren immer für sie da gewesen. „Und all das musste Jaromir allein durchstehen. Wie einsam muss er sich gefühlt haben…“
Gieselas Mitgefühl war echt. Vergessen waren Kronleuchter und Designermöbel.
„Das tut mir wirklich sehr leid“, wiederholte sie noch einmal, während sie tröstend Jaromirs Arm berührte. „Wie konnte das denn passieren? Ich meine… also… Tut mir leid, Jaromir. Ich möchte Sie nicht belästigen. Wenn Sie nicht darüber reden wollen, kann ich das sehr gut verstehen…“
Jaromir lächelte. „Das ist schon ok, Frau Abendrot. Meine Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben.“
Gieselas Herz zog sich zusammen, als sie sich vorstellte, dass ihre Kinder beide Eltern von einem Augenblick auf den anderen verloren hätten. „Das ist ja schrecklich! Und wer hat sich dann um Sie gekümmert?“
„Mein Onkel war für mich da. Und natürlich Albert.“
Giesela nickte erleichtert.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und Hoggi trat ein. Er trug den Anzug, den er vor einem Monat mit Albert gekauft hatte und wirkte sehr aristokratisch.
Freundlich lächelnd ging er auf Victorias Eltern zu. „Endlich lernen wir uns kennen! Ich bin Jaromirs Onkel Hoggi.“
Hartmut ergriff seine ausgestreckte Hand: „Ich bin Hartmut, Victorias Vater.“
Zurückhaltend nickte Hoggi Giesela zu. „Frau Abendrot, nehme ich an – Victorias bezaubernde Mutter. Sie haben eine sehr talentierte Tochter.“
„Hoggi, du bist mein Onkel und nicht Victorias Mentor“ , erinnerte Jaromir ihn, bevor er weiter sprechen konnte.
„Jaromir hat mir schon Anfang des letzten Semesters von ihren mathematischen Fähigkeiten vorgeschwärmt“, erklärte der alte Weiße daraufhin. Dann streckte er Giesela seine Hand entgegen. „Ich bin Hoggi Elfenbeinschimmer.“
Die schüttelte seine Hand und bemerkte verwirrt. „Was für ein ungewöhnlicher Name.“
„Ja, da haben Sie recht, Frau Abendrot. Darum nennen mich auch alle nur Hoggi.“
„Hoggi?“, wiederholte Giesela irritiert.
Jaromir grinste: „Das ist eine Abkürzung für Horst-Günter. Ich habe sie erfunden, als ich noch klein war.“
„Ahh“, gab sie gedehnt zurück, „aber der Nachname ist auch außergewöhnlich – fast schon poetisch, Herr Elfenbeinschimmer.“
„Nennen Sie mich einfach Hoggi. Ich hab das nicht so mit Förmlichkeiten“, erwiderte Hoggi entspannt.
„Na gut“, sagte Victorias Mutter zögerlich, „ich bin Giesela.“
Erneut schüttelten sie die Hände.
„Willkommen, Giesela.“ Hoggi lächelte strahlend.
Dann betrat Albert mit einem großen Tablett den Raum und Jaromir bat zu Tisch. Albert verteilte die Torte und servierte Tee und Kaffee.
Nach den ersten Bissen erklärte Giesela begeistert: „Die Apfeltorte ist hervorragend! Fast wie die von Tante Marta, nur raffinierter.“
Victoria lächelte. „Albert ist ein echter Meister in der Küche. Er wird sich über dein Lob freuen.“
Ihre Mutter nickte beifällig: „Ja, sag es ihm ruhig. Diese Dinge werden immer viel zu wenig gewürdigt, auch wenn in ihnen viel Herzblut und jede Menge Zeit stecken… Könntest du ihn bei der Gelegenheit vielleicht auch nach dem Rezept fragen?“ Sie schob sich noch eine Gabel voll in den Mund und murmelte dann: „Also, diese feine Zimtnote finde ich besonders interessant.“
Während des Kaffeetrinkens unterhielten sie sich über Gott und die Welt. Giesela bemerkte, dass ihr auch Jaromirs Onkel unheimlich war. Sie konnte sich das nicht erklären, denn er war überaus freundlich und einfach nett. Schließlich entschied sie, dass das eine Eigenart von Jaromirs Familie sein musste und hoffte, dass das nicht auf ihre Enkelkinder übergehen würde.
Victoria verschluckte sich fast an ihrem Milchkaffee.
Hartmut sprach angeregt mit Jaromirs Onkel. Gerade ging es um die Presse und wie sehr die Berichte von Journalisten doch das Bild einer öffentlichen Person beeinflussen konnten.
Hoggi nickte zustimmend. „Ja, da hast du recht, Hartmut. Aber das war schon immer so. König Artus wird noch heute als offener, großzügiger, ja fast schon demokratischer Herrscher gesehen. Dabei konnte der ganz schon kleinkariert sein und sich sehr echauffieren, wenn seine Tafelritter nicht darauf
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