Machtlos
ER hat seinen Zimtextrakt schon getrunken, genau wie Lenir. Und bevor du auch noch nach Abrexar fragst: Dem geht es ebenfalls gut. Er ist unterwegs und versucht herauszufinden, was da gestern los war.“ Dann sah er sie auffordernd an. „Haben wir alles geklärt? Kannst du jetzt trinken?“
Sie schüttelte den Kopf und bereute das sofort, denn die Schmerzen in ihrem Kopf schwollen an. „Es ist wohl besser, wenn ich das Zeug doch trinke“ , dachte sie bei sich und schloss die Augen bis der Schmerz wieder nachließ. Trotzdem fragte sie stur: „Wie spät ist es?“
Mandolan sah auf seine Armbanduhr. „Es ist jetzt zehn vor sieben. Morgens“, fügte er hinzu.
Noch einmal hielt ihr Narex demonstrativ den Becher vor die Nase.
Doch Victoria hatte noch eine Frage: „Was machst du hier?“
Narex verdrehte die Augen und ließ den Becher sinken. Er seufzte und erklärte: „Krankenpflege. … Gestern am späten Nachmittag erhielt ich einen Notruf von Abrexar. Er bat mich, umgehend hierher zu kommen.“ Er zuckte gleichgültig mit den Schultern und fügte grinsend hinzu: „Wenn Abrexar ruft, dann frage ich nicht warum, dann komme ich! Und bevor DU jetzt fragst, warum Mandolan hier ist: auch er wurde von Abrexar hierher beordert. Der alte Meister hat uns beide bis auf Weiteres im Haus Brookstedt einquartiert.“
Dann hob er den Becher mit dem Zimtextrakt erneut. „So Victoria, haben wir jetzt endlich alles geklärt? Kalt schmeckt das Zeug noch schlimmer und wirkt nur noch halb so gut.“
Victoria gab auf und nahm widerwillig einen Schluck. „Bahhh!“
Der aufgelöste Extrakt schmeckte auch im warmen Zustand so penetrant nach Zimt, dass er schon auf der Zunge bröselte. So widerwärtig der Geschmack auch war, so gut war seine Wirkung. Victoria spürte, wie die astralen Energien nun beschleunigt in ihren ausgezehrten Körper zurückflossen.
Tapfer nahm sie noch einen Schluck und dann noch einen. „Uaääää.“
Ihr Körper sog die magische Kraft wie ein ausgetrockneter Schwamm auf.
„So ist es gut. Trink den Becher ganz leer, Victoria“, ermunterte Narex sie.
Sie würgte noch einen Schluck hinunter. „Das Zeug ist soooo eklig! Weißt du das eigentlich, Narex?“
Der lachte. „Ja, ich weiß, aber das ist nun mal das beste Mittel, wenn man die körpereigenen, astralen Kräfte auffüllen will.“
„Grumpf“, gab Victoria zweifelnd zurück. „Beim letzten Mal bekam ich so eine kleine Phiole mit einer klaren, zartrosa Flüssigkeit… Das Zeug hat viel besser geschmeckt.“
Narex grinste jetzt von einem Ohr zum anderen. „Astraltränke sind natürlich auch eine Möglichkeit, in akzeptabler Qualität allerdings selten. Und auch die haben Nebenwirkungen.“
Victoria erinnerte sich noch genau an den rauschartigen Zustand, in den sie gefallen war, nachdem sie die Phiole damals geleert hatte. „Das wäre jetzt auch nicht schlecht. Dann müsste ich wenigstens nicht darüber nachdenken, was in Laboe passiert ist.“
„Komm Victoria, einen Schluck noch, dann hast du es geschafft“, meinte Narex und nickte ihr nachdrücklich zu.
„Oh Menno“, murmelte sie und würgte auch noch den letzten Schluck runter. „Buaaahh.“
Sie gab Narex den leeren Becher zurück. Dann blickte sie auf das Polster, auf dem sie saß und bemerkte beiläufig: „Ein hübsches Bett habt ihr mir da gebaut.“
Mandolan lächelte. „Ihr beiden wart so unruhig letzte Nacht. Wir hatten gehofft, es würde helfen, wenn ihr Körperkontakt habt.“
„Und?“, fragte sie.
„Das Ergebnis war zufriedenstellend“, gab Mandolan formell zurück.
Victoria seufzte. Tatsächlich fand sie Jaromirs Nähe sehr angenehm. Sie lehnte sich mit geschlossenen Augen an ihren Gefährten. „Schlaf hilft auch bei magischer Überanstrengung“ , dachte sie und wehrte sich nicht gegen die erneut aufsteigende Müdigkeit.
Als sie wieder erwachte, lag sie in Jaromirs Bett und er schlief in Menschengestalt neben ihr. Sie horchte in sich hinein und stellte fest, dass es ihr deutlich besser ging. Sie fühlte sich schon fast normal – zumindest solange sie nichts tat.
Lächelnd betrachtete sie ihren Gefährten. Auch ihm ging es besser. Offensichtlich hatte er ebenfalls eine Portion aufgelösten Zimtextrakt bekommen. Nun schnarchte er leise neben ihr.
Sie blickte auf den Wecker. Es war fast zwölf und die Sonne stand hoch am Himmel. „Na toll, das Unwetter von gestern hat sich verzogen“ , dachte sie sarkastisch.
Sie musste unbedingt nach Kerstin sehen.
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