Machtrausch
arbeitete schon ziemlich lange für die Firma und unterstand, weil er nicht dem Führungskreis angehörte, dem Schutz des Betriebsrates. Im Prinzip gab es nur zwei Wege, jemanden wie Rauch loszuwerden: Man bot ihm eine so hohe Abfindung an, dass er freiwillig ging. Die musste in einer Zeit grassierender Arbeitslosigkeit allerdings sehr hoch sein, denn als ehemaliger Angestellter einer Stabsabteilung konnte man froh sein, wenn man eine Taxilizenz ergatterte. Oder aber man wies dem ungeliebten Mitarbeiter ein grobes Vergehen, wie zum Beispiel eine absichtlich getürkte Reisekostenabrechnung, nach. Was zum Teufel hatte Rauch verbrochen, um bei Nagelschneider derart in Ungnade gefallen zu sein? Und wie konnte man von ihm verlangen, seinen langjährigen Kollegen und Zimmergenossen eigenhändig vor die Tür zu setzen? Ja, im Konzern wurde mit harten Bandagen gekämpft, die Erlebnisse der letzten Tage stellten aber
alles Bisherige in den Schatten. Renate hatte ihm am Freitag zugetragen, Nagelschneider gehöre der Fraktion der Traditionalisten und Arbeitnehmerfreunde an. Darüber konnte er nach dem Treffen eben nur lauthals lachen. Welch Irrtum! Wenn die Ratlosigkeit des Dr. Anton Glock noch steigerungsfähig gewesen war, so hatte sie nach diesem Gespräch einen weiteren Höhepunkt erreicht.
Glock machte einen langen Spaziergang auf dem ausgedehnten Firmengelände, über dem tiefe, graue Wolken hingen, ohne dass es regnete. Ein kalter Wind blies. Er ging die so genannte ›große Runde‹, die einmal rund um das riesige Gelände führte und ließ sich die Gedanken tüchtig durchpusten. Ein Weichei war Glock sicherlich nicht, und auch er hatte in seiner steilen Karriere schon unfair gekämpft, sogar sehr unfair, wenn und wo es, aus seiner Sicht und zu seinem Vorteil, notwendig gewesen war. So hatte er ganz zu Beginn seiner Zeit in der Strategieabteilung die Verantwortung für ein Restrukturierungsprojekt in den Niederlanden bekommen. Man war davon ausgegangen, dass die dortige Fertigung so gut und kostengünstig produzierte, dass es sinnvoll wäre, Teile der Produktion aus dem deutschen Münster dorthin zu verlagern. Beide Werke fertigten ähnliche mechanische Teile, die dann in den anderen Werken des Konzerns weiterverarbeitet wurden. Bereits nach kurzer Analysearbeit vor Ort war ihm klar geworden, dass der Konzern große Vorteile durch eine solche Verlagerung von Münster nach Holland erzielen würde. Es gab ein gewisses Risiko, was das derzeitige Qualifikationsniveau der holländischen Belegschaft anbelangte, aber das war in den Griff zu bekommen. In Summe wären in Holland in den nächsten Jahren in etwa so viele Arbeitsplätze zusätzlich auf gebaut worden, wie man im deutschen Münster hätte abbauen müssen. Europäisch gedacht wäre die Sache nicht einmal schlecht gewesen. Bei einem Abendessen in einer Altbierkneipe der Münsteraner Innenstadt hatte ihm der Chef des dortigen Werkes, Joseph Brosi, folgendes über den Rand seines mit dunklem Bier gefüllten Glases hinweg mitgeteilt:
»Mein lieber Glock. Ich mache diesen Job hier jetzt seit sechs Jahren und kenne die Vor- und Nachteile dieses Standortes sehr genau. Das sind bodenständige und tüchtige Menschen hier, und sie machen eine gute Arbeit .« Glock hatte nur genickt und ein weiteres Altbier geordert. Er wusste keineswegs, auf was Brosi hinaus wollte.
»Ich weiß natürlich auch, dass die Arbeiter in Holland im Durchschnitt jünger sind und weniger verdienen. Mir ist völlig klar, dass wir eigentlich dichtmachen müssten, um komplett über die Grenze zu den Tulpenzüchtern zu gehen. Ich bitte Sie dennoch sehr nachdrücklich, dies in München nicht zu empfehlen !« Glock hatte langsam das Glas auf den feuchten Bierdeckel gestellt und gefragt:
»Und warum genau sollte ich das Ihres Erachtens nicht tun ?«
»Erstens, weil Sie als Manager auch eine gewisse gesellschaftliche Verantwortung für die Folgen Ihrer unternehmerischen Entscheidungen haben – auch wenn Sie als Unternehmensstratege Entscheidungen nur empfehlen . Wir haben hier in der Region um Münster bereits eine sehr hohe Arbeitslosigkeit und Schuegraf ist einer der letzten größeren Arbeitgeber. Die meisten der bei uns beschäftigten Leute sind in einem Alter jenseits der vierzig. Sie wissen, was das bedeutet? Kaum einer von ihnen wird jemals wieder eine Arbeit finden …«
»Und zweitens?« Wenn Glock das irgendwie zu Herzen ging, ließ er es sich zumindest nicht anmerken.
»Ich werde im
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