Machtrausch
Gedanken verhaftet hatte er das Firmengelände jetzt bereits anderthalb mal umrundet. Sein Mobiltelefon klingelte. Wenn man an den Teufel dachte, den armen Teufel in diesem Fall … Rauch war dran.
»Unser Chef will dich sprechen, Anton. Wo steckst du? Man trug mir in der Kaffeeküche zu, dass du bereits bei Nagelschneider gewesen seist heute früh. Stimmt das ?«
»Sag Röckl, ich käme gleich bei ihm vorbei. Und Alois: Behalt das mit dem Termin bei Nagelschneider bitte für dich !«
»Kein Problem, weiß sowieso schon die ganze Abteilung .«
Röckl verschloss die Bürotür zum Sekretariat hinter sich und kam sofort auf den Punkt. Im Vergleich zu sonst hatte er heute etwas mehr Gesichtsfarbe:
»Nagelschneider hat mich gerade angerufen und mich – am Telefon! – gebeten, über eine vorzeitige Pensionierung mit sofortiger Wirkung nachzudenken. Er hat mir eine äußerst großzügige Erhöhung der Firmenpension in Aussicht gestellt und angedeutet, dass Sie als Nachfolger bereits Gewehr bei Fuß stünden. Was wird hier gespielt, Glock? Warum haben sie es auf einmal so eilig, einen alten Kämpfer wie mich nach Hause zu schicken? Und welche Rolle spielen Sie dabei! ?« Renate hatte Glock gewarnt, nicht zwischen die Fronten zu geraten. Er hatte das Gefühl, dass sich die Kriegsparteien jetzt zunehmend auf ihn einschossen.
»Nagelschneider, das hatte ich Ihnen ja letzte Woche berichtet, hat bis heute acht Uhr meine Zusage zu dem Job verlangt. Die gab ich ihm selbstverständlich. Erst danach teilte er mir mit, dass Sie vermutlich etwas früher in Pension gehen würden … Und er hat mich aufgefordert, Rauch loszuwerden !« , entfuhr es ihm noch.
»Ich weiß nicht, was hier los ist, Glock, aber ich werde letztendlich wohl unterschreiben müssen. Ich will kein Risiko eingehen und ziehe mich lieber ein halbes Jahr früher in mein Haus im Aostatal zurück. Was soll’s? !« Er fuhr sich nervös durch sein fast weißes, spärliches Haar.
»Um Sie mache ich mir allerdings Sorgen! Hier werden Dinge gespielt, die ein paar Nummern zu groß für Sie sind, und ich habe ein ganz übles Gefühl dabei, Sie in diesem Schlangennest alleine zurückzulassen !« Glock, der ebenso wie Röckl immer noch direkt neben der geschlossenen Bürotür stand, hielt den Augenblick für passend und fragte direkt:
»Welche streng geheimen Aufgaben sind eigentlich mit Ihrem heutigen Job verbunden? Nagelschneider machte mir ein paar vage Andeutungen …« Sein Chef hob abwehrend die Hand:
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, da fragen Sie am besten den Finanzvorstand selbst. Vermutlich meint er meinen Aufsichtsratsposten bei unserer Service-Tochter ?« Während er seinen Mitarbeiter mit dieser eindeutigen Lüge abfertigte, ging er zu dem White Board in einer Ecke seines Büros und schrieb mit abwaschbarem Stift in großen Blockbuchstaben darauf: »Kein Wort mehr hier! 13.00 Uhr Sushi Cent.«
Glock war verblüfft, aber er hatte verstanden. Er bedankte sich fröhlich bei Röckl für das Gespräch, wünschte ihm viel Glück beim Treffen der richtigen Entscheidung und verließ das Büro, während hinter ihm der alte Chefstratege der Firma das White Board mit seinem altmodischen, karierten Stofftaschentuch hektisch wieder abwischte.
Die Zeit bis zum Treffen im Sushi Cent, einem ebenso guten wie preiswerten Sushi-Lokal in der Nähe des Prinzregententheaters, verbrachte er an seinem Schreibtisch, wobei er jeder Unterhaltung mit dem gutgelaun-ten Rauch auswich. Er bearbeitete seine zahlreichen E-Mails. Im Moment mangelte es ihm etwas an Konzentrationsfähigkeit, weshalb er lediglich ein paar Routine-Mails beantwortete, einige andere an Kollegen weiterdelegierte und die meisten einfach löschte. Die neun wichtigsten Nachrichten leitete er an seine private Mail-adresse weiter, um sie in Ruhe abends von zu Hause aus bearbeiten zu können. Rauch teilte er mit, am Nachmittag nach Stuttgart fahren zu müssen, um dort einen Marketingberater zu treffen, der hin und wieder für die Abteilung arbeitete. Sein Kollege hatte gerade ein neues Buch gelesen und wollte mit ihm unbedingt über das so genannte »McKinsey-Paradox« diskutieren. Er fing an zu dozieren. Glock hörte nur mit einem Ohr zu:
»Wir messen heutzutage alles und alle ausschließlich an der Effizienz. Einen Kellner beurteilen wir danach, wie schnell er seine Gäste bedient, ein Orchester muss sich an der Anzahl der Aufführungen pro Konzertsaison messen lassen, ein Chirurg an der Menge
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