Machtrausch
durchgeführt und in den Sand gesetzt hatte. Nagelschneider schien sich darüber beinahe zu freuen. Es gab zwar noch eine Menge Fragen, die Glock hätte stellen können und wollen . Andererseits sagte ihm sein Bauchgefühl, jetzt noch nichts von seinen eigenen Beobachtungen zu erzählen. Weder von seiner Bedrohung mit dem verstümmelten Finger (man versuchte also auch ihn, Röckls Nachfolger, gefügig zu machen), noch von den verschwundenen Akten oder dem Mord an Röckl. Und schon gar nichts von dem eigentümlichen Pakt, von dem ihm Renate erzählt hatte und der noch gar nicht ins Bild passte.
Zurück bei den Autos, klopfte Nagelschneider ihm beinahe väterlich auf die Schulter und verabschiedete sich mit der Frage:
»Kennen Sie die Antwort von Karl Kraus auf die Frage eines Schülers, ob Wirtschaftsethik die richtige Studienwahl für ihn sei ?«
» Sie werden lachen, ja. Er meinte: ›Sie werden sich wohl für das eine oder andere entscheiden müssen !‹ «
»Bravo, Glock! Wissen Sie, ich habe Zeit meines Berufslebens versucht, den Gegenbeweis zu diesem Satz anzutreten. Noch nie war ich so kurz davor, mein Scheitern einzugestehen …« War es Zufall, dass Glock das Kraus-Zitat diese Woche nun schon zum zweiten Mal begegnete?
Vom Auto aus rief Glock seine Sekretärin, Frau Nockele, an. In der Abteilung gab es nichts Neues, jedenfalls nichts Wichtiges. Er bat sie, bei Fittkau, dem Leiter der Abteilung für Interne Angelegenheiten, anzurufen und sein Kommen schon jetzt anzukündigen. Eigentlich waren sie erst für fünf Uhr verabredet gewesen. Er würde jetzt gleich auf dem Rückweg bei Fittkau vorbeifahren, da Keferloh sich ohnehin auf dem Weg befand.
Keferloh lag zwischen Haar und Putzbrunn. Der ganze Ort bestand aus wenigen Häusern und dennoch verfügte er über ein paar Besonderheiten: Es gab einen der schönsten Biergärten in der Umgebung von München (den Glock sehr liebte), einmal im Monat den größten Trödel- und Antikmarkt von München (den wiederum Barbara sehr liebte), eine riesengroße Tennisallwetteranlage (auf absteigendem Ast, da der Boris-Becker-Zenit längst überschritten war) und das einzige gut erhaltene, romanische Kirchlein Münchens, St. Aegidius aus dem zwölften Jahrhundert (schlicht, klein und in Dauerrenovierung auf Grund früherer Renovierungen, die wiederum die jetzigen Renovierungen erst erforderlich gemacht hatten). Der kleine Weiler ging bis auf das Jahr 955 zurück, als nach der berühmten Schlacht am Lechfeld – Gaugraf Eberhard von Ebersberg hatte die Ungarn vernichtend geschlagen – alle herrenlosen und vorher für den Krieg beschlagnahmten Pferde auf einem gigantischen Markt in Keferloh zusammengetrieben und meistbietend verkauft worden waren. Fast achtzehntausend Tiere sollen es gewesen sein. Und, ganz nach Glocks bewährtem Gesetz, demzufolge nichts so lange Bestand zu haben pflegt wie ein Provisorium, hatte sich dieser Pferdemarkt daraufhin zu einer festen Einrichtung entwickelt. Abgesegnet vom deutschen Kaiser Otto, der sich sehr über den Sieg gegen die ungarischen Barbaren freute.
Glock parkte auf dem großen Wirtshausparkplatz und stieg aus in das gleißende Sonnenlicht. Im Innenhof des Wirtshauses, dem Gasthof Kreitmair, saßen vereinzelt Gäste und genossen ein herbstliches Weißbier. Es sah hier aus wie auf einem der Brauereiplakate, mit denen für Münchner Bier geworben wurde. Hinter dem alten Wirtshausgebäude hatte man einige Gutsgebäude in schöne, teure Bürogebäude umgebaut und gleich im selben Stil ein paar weitere Häuser hinzugefügt, die ebenfalls als Büros für kleine Firmen genutzt wurden. Hier hatte die Schuegraf AG einige kleinere Büroflächen für ihre Hausrevision angemietet. Angeblich, um den Hauptstandort zu entlasten. Das war natürlich Blödsinn. Augenscheinlich hatte man der Abteilung für Interne Angelegenheiten, deren Chef Erich Bruno Fittkau war, bewusst einen abgelegenen und abgeschirmten Standort verpasst. »Schuegraf AG – Revision« stand ganz bescheiden auf dem Schild neben der Klingel, auf die Glock kurz drückte.
Das vorgerückte Alter von Fittkau, den Anton noch nie gesehen hatte, überraschte ihn. Der Mann musste mindestens sechzig sein. Glock, dem der vorgestern von Renate beschriebene Pakt permanent im Hinterkopf herumspukte, schloss Fittkau als potentielles Mitglied geistig aus. Bei Gründung des Paktes musste sein Gegenüber schon über vierzig gewesen sein. Das gesamte Verhalten Fittkaus zielte
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