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MacTiger - Ein Highlander auf Samtpfoten

MacTiger - Ein Highlander auf Samtpfoten

Titel: MacTiger - Ein Highlander auf Samtpfoten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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entdeckte ich zum Beispiel vor Jahren, als wir in einem Haus in der Nähe einer alten, langsam verfallenden Fabrik lebten. In dem Garten stand ein knorriger Apfelbaum, der trotz seines hohen Alters noch immer eine erstaunliche Menge süßer, saftiger Äpfel trug. Dort begegnete ich häufig diesem Mädchen, einer mageren Gestalt in einem abgerissenen Kleid und mit filzigen Zöpfen, das mit dem Ausdruck größter Seligkeit in einen dieser Äpfel biss.
    Ich forschte ein wenig nach und fand einen Zusammenhang heraus. Um die Jahrhundertwende mussten in dieser Fabrik viele Kinder für dürftigen Lohn arbeiten. Sicher war meine Erscheinung eines jener bedauernswerten Geschöpfe, das, auf welchen unlauteren Wegen auch immer, in den Garten geschlüpft war und seinen brennenden Hunger mit einem Apfel gestillt hatte.
    An einem alten Schleusenwärterhaus in Frankreich hatte ich einmal einen betagten Mann gesehen, der friedlich angelte und plötzlich mit dem Ausdruck größter Freude aufstand und die Arme ausbreitete. Ein kleiner Junge lief auf ihn zu, und er schloss ihn in die Arme. Vielleicht war es sein geliebter Enkel, den er nach langer Zeit wiedersah. Niemand anderes jedoch hatte diese kleine Szene beobachtet. Wir fuhren leider viel zu schnell weiter, und ich konnte nichts Näheres darüber in Erfahrung bringen.
    Aber nicht nur Liebe, Freude, Genuss, auch der Tod hinterlässt Spuren. Doch bisher hatte er mir noch keine Angst gemacht. Ich war ihm nur einmal begegnet. Bei einer Reise in die Schweiz fand ich in dem historischen Gasthof, der einmal ein Bauernhof war, in meinem Bett eine alte Bauersfrau. Sie sah mit leuchtenden Augen zu jemandem hin, der an ihrem Bett stand und ihre Hand hielt. Dann schlossen sich ihre Lider, und die Hand glitt auf die Decke.
    An diese Begegnungen dachte ich, während ich auf meinen Kissen lag und in das dunkler werdende Viereck des Fensters starrte. Dabei kam mir eine Idee, die diesen Urlaub zu einem wirklich denkwürdigen Ereignis in meinem Leben machen sollte. Ich entschied mich nämlich, einfach nur um eine interessante Aufgabe zu haben und der Langeweile zu entgehen, dem Schicksal der Liebenden nachzugehen, die ich nun schon zweimal gesehen hatte.
    Mit diesem Vorsatz stand ich auf und machte mich für das Abendessen fertig.
     
    Ich versuchte es noch einmal mit dem kurzen Rock, der Tante Henriettas Missfallen erregt hatte, verzichtete aber auf das Sweatshirt und wählte stattdessen eine weiße Bluse und einen bunten Schal. Dass ich meine ungebärdigen Haare nicht mehr mit Gewalt bändigte, würde ich ihr gegenüber vertreten können. Schließlich hatte sie heute Mittag auch eine milde Variante einer Windstoßfrisur getragen.
    Ich sah in den Spiegel und fand meine Wangen sacht gerötet. Vom Schlaf? Oder war es die Vorfreude darauf, heute Abend endlich mal wieder eine heitere Unterhaltung zu haben, vielleicht sogar einen ganz kleinen Flirt?
    Tante Henrietta klopfte an meine Tür und fragte ungeduldig von draußen: »Bist du so weit?«
    Sie trat nie unaufgefordert in mein Zimmer. Aber ich hätte pünktlich vor der Tür warten sollen.
    »Entschuldige, ich hatte mich etwas hingelegt.«
    »Mh.«
    Offensichtlich wurde mir das verziehen. Vielleicht, weil ich die vergangene Nacht an ihrem Bett gesessen hatte. Sie musterte mich kurz, und ich befürchtete, gleich wieder zurückgeschickt zu werden, um etwas anderes anzuziehen. Aber nichts passierte.
    »Gehen wir essen«, befahl sie und schritt voraus. Ich musste mich beeilen, an ihre Seite zu kommen.
    Im Speisesaal befand sich eine äußerst fröhliche Menge Jungmanager, die von ihrem Besuch der Whisky-Brennerei sichtlich animiert waren. Und nicht nur von den visuellen Eindrücken. Es mochte auch die eine oder andere Probe verköstigt worden sein. Ken war nicht unter ihnen, was mich etwas wunderte.
    »Nach wem hältst du Ausschau? Hast du Bekannte entdeckt?«
    »Nein, Tante Henrietta.«
    »Dann starr die Leute nicht so an.«
    »Ja, Tante Henrietta.«
    Sie hatte sich wirklich gut erholt, meine Tante. Sie sprach auch mit gesundem Appetit dem Partan Bree, einer cremigen Fischsuppe, und dem darauffolgenden Lammbraten zu. Und ich hatte meinen Ohren kaum trauen wollen, als sie für uns beide je ein kleines Bier bestellte. »Bist alt genug, etwas Alkohol zu dir nehmen zu können.«
    In der Tat, mit sechsundzwanzig war ich alt genug dazu. Zum Glück bewohnte ich seit fünf Jahren eine eigene Wohnung und durfte mein Leben recht und schlecht selbst organisieren.

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