Madam Wilkin's Palazzo
kennst du eigentlich die Wächter
hier?«
»Ich kenne jeden.« Eine entschiedene
Feststellung, die bei Nick Fieringer sogar fast der Wahrheit entsprach.
»Was für ein Mann war Joe Witherspoon?«
»Sagtest du war? Warum war? Ist Joe
etwas passiert?«
»Er ist mit dem Kopf zuerst in den Hof
gefallen, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als dein kleines Genie bestimmt gerade vor
Mrs. Forbot knickste.«
»Der alte Joe?«
Der Impresario gehörte zu jener Gattung
von großen, korpulenten, kahlköpfigen Männern, die sehr leicht sentimental
werden. Er verzog den Mund wie ein Baby, und es hätte Sarah nicht überrascht,
wenn er auch noch laut zu schluchzen begonnen hätte. Nach kurzer Zeit hatte er
sich jedoch wieder gefangen und sprach ruhig weiter. »Etwas
Unwahrscheinlicheres kann ich mir kaum vorstellen. Wie konnte das nur
passieren?«
»Der Wächter im Flur im zweiten Stock
behauptet, jemand habe versucht, die Kapelle auszurauben. Brown heißt er. Ich
vermute, daß du ihn auch kennst. Jedenfalls fand Mrs. Kelling ihn ins Chorgestühl
eingeklemmt neben einem Haufen Silberkelchen und anderem Zeug am Altar. Seiner
Geschichte zufolge haben zwei oder drei Kerle ihn während eines versuchten
Raubüberfalls zusammengeschlagen und Witherspoon über die Balkonbrüstung
gestoßen, damit er sie später nicht identifizieren konnte.«
»Dieser Brown ist ein Lügner und
Betrüger. Im Konzertsaal waren 87 Leute. Ich zähle immer zuerst die Anwesenden,
bevor sie sich auf Zehenspitzen aus dem Staub machen. In den anderen Räumen
waren bestimmt weitere 100 Personen. Die Kapelle befindet sich im zweiten
Stock. Das große Treppenhaus ist der einzige Weg, den man nehmen kann, um das
Gebäude zu verlassen, es sei denn, man läßt mitten am hellichten Tag ein Seil
vom Fenster herab und klettert vor den Augen all der stolzen Hundebesitzer
herunter, die gerade ihre Lieblinge spazierenführen, ihre kleinen Schäufelchen
in der Hand, um den Hundedreck vom Bürgersteig zu entfernen. Quod erat
absurdum. Daß jemand das große Treppenhaus hinunterläuft und für jeden gut
sichtbar einen Sack voll Silber hinter sich herzerrt, ist ja wohl kaum zu
glauben. Wer könnte einem Lügner wie Brown das schon abkaufen, selbst wenn er
auf eine echte Gutenberg-Bibel schwören würde, ein Gegenstand, den man, ganz
entre nous, hier in diesem Etablissement sicher nicht finden kann. Brown macht
sich während des Konzerts aus dem Staub und hält ein Nickerchen in der Kapelle,
c’est tout. Er legt das Silber neben den Altar, für den Fall, daß jemand ihn
erwischt. Als man ihm die Sache mit Joe erzählt, kommt das dem Kerl als
Zuckerguß für seinen Kuchen gerade recht. Diese Laus!«
»Weißt du, Nick«, sagte Bittersohn,
»diese Erklärung ist mir noch gar nicht in den Sinn gekommen.«
»Weil du das Ekel nicht so gut kennst
wie ich, Max. Er würde alles, aber auch wirklich alles tun, um sich vor einer
Stunde ehrlicher Arbeit zu drücken. Ich — « Nick blickte grimmig zu Sarah
herüber, »- ich mag zwar fett sein, aber ich bin kein Ekel. Und ich bin ein
hart arbeitender Mann. Mein Gott, ich schufte wirklich wie ein Pferd. Joe
Witherspoon stirbt, und Brown schnarcht wie ein Bär in der Kapelle.«
»Vieuxchamp sagt, Witherspoon hätte
manchmal Schwindelanfälle gehabt? Kannst du das bestätigen?«
»Bestätigen nicht, aber sehr wohl
glauben. Joe war nicht mehr der Jüngste, und er hat sich nicht geschont. Immer
diese mörderischen Treppen rauf und runter, vier, fünf Mal am Tag. Lehnt sich
zu weit vor, kleiner Schwindelanfall vielleicht, schon stürzt er runter.«
»Aber warum hätte er sich auf dem Balkon
aufhalten sollen? Sein Posten war doch im Tizian-Saal.«
»Lieber Freund, wie soll ich das
wissen? Während des Konzerts waren vielleicht nur sehr wenige Leute im zweiten
Stock. Vielleicht ist Joe auf den Balkon getreten und hat seine Beine ein
bißchen ausgestreckt und die hübschen Pfauen beguckt oder ein wenig in den
Wasserfall gepinkelt, weil es hier in diesem verrückten Palazzo nur eine
einzige Toilette gibt, und die ist im Kellergeschoß. Denkst du etwa, die
Wächter gehen jedesmal den weiten Weg nach unten?«
Bittersohn blickte zu Sarah herüber und
wechselte das Thema. »Hast du jemals Witherspoon über den großen Tizian reden
hören?«
»Nicht mehr als über andere Dinge.
Lucretia war sein ganz besonderer Liebling. Wer könnte es ihm auch verdenken?
Wie schon bei Shelley: Er wird sie immer lieben, und sie wird immer dick
bleiben. Er konnte sie
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