Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
Spekulationen.
»Mutter Rolet«, sagte sie, als sie bei der Amme eintraf, »ich ersticke, lockern Sie mir das Korsett.«
Sie fiel auf das Bett; sie schluchzte. Mutter Rolet bedeckte sie mit einem Unterrock und blieb neben ihr stehen. Als sie keine Antwort mehr gab, entfernte sich die gute Frau, setzte sich ans Spinnrad und begann Flachs zu spinnen.
»Oh! aufhören!« murmelte sie in dem Glauben, Binets Drechselbank zu vernehmen.
»Was quält sie?« fragte sich die Amme. »Warum kommt sie hierher?«
Sie war hergelaufen, getrieben von einem Grauen, das sie aus ihrem Haus jagte.
Auf dem Rücken liegend, reglos und mit starrem Blick, erkannte sie alle Gegenstände nur undeutlich, obwohl sie ihre ganze Aufmerksamkeit darauf richtete, mit schwachsinnigem Beharren. Sie stierte auf die Abbröckelungen der Wand, zwei nebeneinander rauchende Holzscheite und eine lange Spinne, die über ihrem Kopf einherspazierte, in einer Ritze des Holzbalkens. Endlich ordnete sie ihre Gedanken. Sie erinnerte sich … Eines Tages, mit Léon … Ach! wie fern das war … Die Sonne schien auf den Fluss, und überall duftete es nach Klematis … Von ihren Erinnerungen fortgespült wie in einem sprudelnden Wildbach, kam ihr der Vortag bald wieder in den Sinn.
»Wie spät ist es?« fragte sie.
Mutter Rolet ging hinaus, hob die Finger ihrer rechten Hand in die Richtung, wo der Himmel am hellsten war, kehrte langsam zurück und sagte:
»Bald drei.«
»Ah! danke! danke!«
Denn er würde kommen. Ganz sicher! Er hatte Geld aufgetrieben. Vielleicht aber würde er dorthin gehen, nicht ahnend, dass sie hier war; und sie befahl der Amme, nach ihrem Haus zu laufen und ihn herzubringen.
»Beeilen Sie sich!«
»Aber ja, meine Gnädigste, ich geh schon! ich geh schon!«
Sie wunderte sich jetzt, dass sie nicht gleich an ihn gedacht hatte; gestern hatte er sein Wort gegeben, er würde es nicht brechen; und schon war sie bei Lheureux, sah sich die drei Banknoten auf den Tisch legen. Hinterher musste sie noch eine Geschichte erfinden, die Bovary alles erklärte. Was für eine?
Aber die Amme kam und kam nicht. Da in dem Häuschen keine Uhr war, fürchtete Emma, sie überschätze bloß die verstrichene Zeit. Sie begann im Garten umherzuspazieren, Schritt für Schritt; sie folgte dem Pfad an der Hecke entlang und kehrte rasch um, in der Hoffnung, die gute Frau wäre über einen anderen Weg heimgekehrt. Schließlich, des Wartens müde, von Zweifel befallen, den sie verdrängte, unsicher, ob sie schon ein Jahrhundert hier war oder eine Minute, setzte sie sich in einen Winkel und schloss die Augen, hielt sich die Ohren zu. Das Gatter quietschte: sie tat einen Sprung; bevor sie etwas sagen konnte, hatte Mutter Rolet verkündet:
»Bei Ihnen war niemand!«
»Wie?«
»Na! niemand! Und Monsieur weint. Er ruft nach Ihnen. Man sucht Sie.«
Emma gab keine Antwort. Sie atmete schwer, wild um sich blickend, während die Bäuerin, erschrocken über ihr Gesicht, instinktiv zurückwich und glaubte, nun sei sie verrückt. Plötzlich fasste sie sich an die Stirn, stieß einen Schrei aus, denn ihr war der Gedanke an Rodolphe, wie ein greller Blitz in dunkler Nacht, durch die Seele gezuckt. Er war so gut, so feinfühlend, so großherzig! Und außerdem, sollte er zögern, ihr diese Gefälligkeit zu erweisen, sie wüsste schon, wie sie ihn dazu brächte, mit einem einzigen Lidschlag würde sie ihn an ihre verflossene Liebe erinnern. Sie machte sich also auf den Weg nach La Huchette, ohne zu merken, dass sie etwas tun wollte, was sie vor kurzem noch so erbost hatte, ohne auch nur im mindesten zu ahnen, dass sie sich prostituierte.
Anmerkungen
VIII.
Sie fragte sich im Gehen: »Was soll ich sagen? Womit anfangen?« Als sie näher kam, erkannte sie die Büsche, die Bäume, den Stechginster auf dem Hügel, das Schloss weiter hinten. Sie spürte wieder die Gefühle ihrer ersten Verliebtheit, und ihr armes eingeschnürtes Herz weitete sich zärtlich. Lauer Wind strich ihr übers Gesicht; schmelzender Schnee tropfte von den Knospen ins Gras.
Sie trat wie früher durch die kleine Parktür, gelangte in den Ehrenhof, den eine Doppelreihe dichter Linden säumte. Sie wiegten säuselnd ihre langen Äste. Die Hunde im Zwinger bellten, und ihr lautes Gekläff hallte wider, ohne dass jemand erschien.
Sie stieg die gerade, breite Treppe mit dem Holzgeländer hinauf, zu einem Flur mit staubigen Fliesen, von dem nacheinander mehrere Zimmer abgingen wie in Klöstern oder Gasthöfen.
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