Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
Katechismus gut, und bei schwierigen Fragen antwortete immer sie dem Herrn Vikar. Während sie nun so dahinlebte, ohne hinauszukommen aus dem lauen Schulklima, zwischen diesen weißgesichtigen Frauen, die Rosenkränze mit Messingkreuzen trugen, ließ sie sich langsam einlullen von der mystischen Trägheit, die dem wohlriechenden Altar entströmt, den kühlen Weihwasserbecken und funkelnden Wachskerzen. Anstatt der Messe zu folgen, betrachtete sie in ihrem Buch die von Himmelsblau umrandeten Heiligenbildchen, und sie liebte das kranke Schaf, das von spitzen Pfeilen durchbohrte Heiligste Herz Jesu oder den armen Heiland, der auf dem Weg unter seinem Kreuz zusammenbricht. Sie bemühte sich, zur Kasteiung einen ganzen Tag nichts zu essen. Sie suchte in ihrem Kopf nach irgendeinem Gelübde, das sie hätte erfüllen können.
Wenn sie zur Beichte ging, erfand sie kleine Sünden, um länger zu bleiben, im Dunklen kniend, die Hände gefaltet, das Gesicht nahe beim Gitter im Geflüster des Priesters. Bilder wie himmlischer Bräutigam, Gemahl, Geliebter und ewige Vermählung, die in Predigten immer wieder vorkommen, bescherten ihr tief in der Seele unverhoffte Wonnen.
Abends, vor dem Gebet, wurde im Arbeitssaal aus frommen Büchern vorgelesen. Das konnte unter der Woche die Zusammenfassung einer biblischen Geschichte sein oder die Vorträge des Abbé Frayssinous, und sonntags Stellen aus dem Geist des Christentums , zur Erholung. Wie lauschte sie die ersten Male dem klangvollen Lamento romantischer Melancholie, das sich überall wiederholt, auf der Welt und in der Ewigkeit! Hätte sie ihre Kindheit im Hinterzimmer eines Ladens in irgendeinem Krämerviertel verbracht, dann wäre sie vielleicht anfällig gewesen für die lyrischen Exzesse der Natur, die im allgemeinen nur über die Verdolmetschung der Schriftsteller zu uns dringen. Doch ihr war das Landleben nur allzu vertraut; sie kannte das Geblök der Herden, die Milch, die Pflüge. An stille Szenerien gewöhnt, interessierten sie im Gegenteil die bewegten. Sie liebte das Meer nur wegen der Stürme und das Grün einzig und allein, wenn es schütter spross zwischen Ruinen. Sie musste aus den Dingen eine Art von persönlichem Gewinn ziehen können; und sie verwarf als unnütz alles, was nicht den unmittelbaren Bedürfnissen ihres Herzens diente, – denn sie war eher sentimental als künstlerisch veranlagt und suchte Gefühle, nicht Landschaften.
Es gab im Kloster eine alte Jungfer, die jeden Monat für acht Tage kam und beim Ausbessern der Wäsche half. Vom Erzbischof protegiert, weil sie einer großen, unter der Revolution zugrunde gerichteten Adelsfamilie angehörte, aß sie im Refektorium am Tisch der Schwestern und hielt nach der Mahlzeit mit ihnen ein Schwätzchen, bevor sie wieder an ihre Näherei ging. Oft stahlen sich die Zöglinge aus dem Arbeitssaal, um sie zu besuchen. Sie konnte galante Lieder des vorigen Jahrhunderts auswendig und sang halblaut, während ihre Nadel eifrig zustach. Sie erzählte Geschichten, wusste Neuigkeiten zu berichten, machte Besorgungen in der Stadt und lieh den Großen heimlich Romane, von denen sich immer irgendeiner in ihrer Schürzentasche fand und die das gute Fräulein selber in den Arbeitspausen kapitelweise verschlang. Da gab’s nur Liebschaften, Liebhaber, Liebhaberinnen, verfolgte Damen, die in einsamen Lusthäuschen ohnmächtig, Kutscher, die auf allen Poststationen ermordet, Pferde, die auf jeder Seite zuschanden geritten wurden, Waldesdunkel, Herzensqual, Schwüre, Schluchzer, Tränen und Küsse, Nachen im Mondenschein, Nachtigallen im Gehölz, Herren so tapfer wie Löwen, so sanft wie Lämmer, so tugendhaft wie keiner ist, stets wohlgekleidet, und deren Zähren fließen wie aus Krügen. Sechs Monate lang machte sich die fünfzehnjährige Emma die Hände schmutzig am Staub der alten Lesekabinette. Mit Walter Scott entflammte sie dann für Historisches, träumte von Truhen, Wachstuben und Minnesängern. Gern hätte sie auf einem alten Rittergut gelebt wie jene Burgherrinnen mit den langen Korsagen, die ihre Tage unter dem Dreipass der Spitzbogenfenster verbrachten, den Ellbogen aufs Gemäuer, das Kinn in die Hand gestützt, und spähten, ob aus weiter Ferne ein Reiter mit weißer Feder herangaloppierte auf schwarzem Ross. In jener Zeit verehrte sie Maria Stuart und huldigte voll Überschwang berühmten oder leidgeprüften Frauen. Jeanne d’Arc, Héloïse, Agnès Sorel, die Belle Ferronnière und Clémence Isaure leuchteten
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