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Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)

Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)

Titel: Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustave Flaubert
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hast durch das Gesicht, den Geschmack, das Gehör usw.?«
    Hören Sie, ich will Ihnen die inkriminierte Stelle vorlesen, und das wird meine ganze Rache sein. Ich wage es, meine Rache zu sagen, denn der Autor soll gerächt werden. Ja, Monsieur Flaubert muss diesen Saal nicht nur freigesprochen verlassen, sondern gerächt! Sie werden sehen, aus welchen Lektüren sie gespeist ist. Die inkriminierte Stelle befindet sich auf Seite 271 der Nummer vom 15. Dezember, sie lautet folgendermaßen:
    »Bleich wie eine Statue und die Augen rot wie glühende Kohle, stand ihr Charles tränenlos am Fußende des Bettes gegenüber, während der Priester, auf einem Knie ruhend, leise Worte wisperte …«
    Dieses ganze Gemälde ist wundervoll und die Lektüre hinreißend; doch seien Sie unbesorgt, ich werde nicht über die Maßen lang sein. Hier nun die inkriminierte Stelle:
    »Sie drehte langsam den Kopf und schien von Freude erfasst, als sie plötzlich die violette Stola sah, vielleicht fand sie während einer ungewöhnlichen Befriedung die verlorene Wonne ihrer ersten mystischen Verzückungen wieder, und dazu noch Visionen von ewiger Seligkeit, die nun einsetzten.
    Der Priester erhob sich und griff nach dem Kruzifix; da reckte sie den Hals wie jemand, der Durst hat, presste ihre Lippen auf den Leib des Gottmenschen und schenkte ihm mit all ihrer versiegenden Kraft den innigsten Liebeskuss, den sie jemals gegeben hatte.«
    Die Letzte Ölung hat noch nicht begonnen, aber man wirft mir diesen Kuss vor. Ich will jetzt nicht bei der heiligen Teresia nachschlagen, die Ihnen vielleicht bekannt ist, aber die Erinnerung an sie liegt allzuweit zurück; ich werde nicht einmal bei Fénelon nach dem Mystizismus der Madame Guyon suchen, genausowenig nach moderneren Mystizismen, in denen ich noch andere Argumente finde. Ich will diese Schulen, die Sie als sinnliches Christentum bezeichnen, nicht um die Erklärung für diesen Kuss fragen; ich will Bossuet, ja, Bossuet selbst, danach fragen:
    »Gehorcht und bemüht euch zudem, beim Empfang der Kommunion bereit zu sein für Jesus, also bereit für die Vereinigung, die Lust und die Liebe: das ganze Evangelium schreit es hinaus. Jesus will, dass man mit ihm ist; er will Lust empfinden, er will, dass man an ihm Lust empfindet. Sein heiliges Fleisch ist der Mittelpunkt dieser Vereinigung und dieser keuschen Lust: er schenkt sich.« Usw.
    Ich fahre mit der Lektüre der inkriminierten Stelle fort.
    »Anschließend betete er das Misereatur und das Indulgentiam , tauchte seinen rechten Daumen ins Öl und begann mit den Salbungen: zuerst auf die Augen, die so sehr gelechzt hatten nach aller irdischen Pracht; dann auf die Nasenflügel, gierig nach lauen Brisen und den Düften der Liebe; dann auf den Mund, der sich geöffnet hatte für die Lüge, der gestöhnt hatte vor Hoffart und geschrien in der Wollust; dann auf die Hände, die sich erfreuten an sanfter Berührung, und schließlich auf die Sohlen der Füße, so flink einst, wenn sie eilte, ihre Begierden zu stillen, und die jetzt niemals mehr laufen würden.
    Der Pfarrer trocknete sich die Finger, warf die ölgetränkten Wattekrümel ins Feuer und setzte sich wieder zu der Sterbenden, um ihr zu sagen, dass sie nun ihre Leiden mit denen Jesu Christi vereinen und sich dem göttlichen Erbarmen anheimgeben müsse.
    Während dieser Ermahnungen versuchte er ihr eine geweihte Kerze in die Hand zu drücken, Symbol der himmlischen Herrlichkeit, von der sie bald umgeben sein werde. Emma war zu schwach, sie konnte die Finger nicht schließen, und ohne Monsieur Bournisien wäre die Kerze zu Boden gefallen.
    Doch sie war nicht mehr so bleich, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Heiterkeit, als habe das Sakrament sie geheilt.
    Der Priester versäumte nicht, darauf hinzuweisen; er setzte Bovary sogar auseinander, manchmal verlängere der Herr das Leben der Menschen, wenn es ihm angemessen schien für ihr Seelenheil; und Charles erinnerte sich an einen Tag, da sie, dem Tode nah, die Kommunion empfangen hatte. ›Vielleicht hätte ich nicht gleich verzweifeln sollen‹, dachte er.«
    Nun, wenn eine Frau stirbt und der Priester ihr die Letzte Ölung spendet, wenn man daraus eine mystische Szene macht und wir mit gewissenhafter Treue die Einsetzungsworte des Sakraments wiedergeben, dann heißt es, dass wir an die heiligen Dinge rühren. Wir haben die heiligen Dinge mit kühner Hand angefasst, weil wir dem deliquisti per oculos, per os, per aurem, per manus, et per pedes

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