Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
gesündigt hast durch die zügellosen Bewegungen des Fleisches.«
Wenn wir das gesagt hätten, mit welchem Bannstrahl hätten Sie uns nicht zu treffen gesucht, Herr Staatsanwalt! und doch sagt das Rituale außerdem noch:
»Der Kranke muss in diesem Augenblick erneut so viel sträfliche Vergnügungen, so viel fleischliche Genüsse verwünschen …«
Soweit das Rituale , und Sie haben den inkriminierten Beitrag gesehen; darin findet sich keinerlei Spott, alles ist ernst und ergreifend. Und ich wiederhole, derjenige, der meinem Mandanten dieses Buch gegeben und der gesehen hat, welchen Gebrauch mein Mandant davon machte, hat ihm unter Tränen die Hand gedrückt. Sie sehen also, Herr Staatsanwalt, wie kühn – um keinen anderen Ausdruck zu verwenden, der zwar genau, aber strenger wäre – die Beschuldigung ist, wir hätten an heilige Dinge gerührt. Sie sehen jetzt, wir haben nichts Profanes unter das Heilige gemischt, als wir, bei jedem der Sinne, die von diesem Sinn begangene Sünde erwähnten, denn dies ist die Sprache der Kirche selbst.
Soll ich mich jetzt noch mit den anderen Einzelheiten des Vergehens des Verstoßes gegen die Religion befassen? Die Staatsanwaltschaft sagt mir: »Es ist nicht mehr die Religion, es ist die Moral aller Zeiten, gegen die Sie verstoßen haben; Sie haben den Tod beleidigt!« Wie soll ich den Tod beleidigt haben? Weil in dem Augenblick, da diese Frau stirbt, auf der Straße ein Mann vorübergeht, dem sie mehr als einmal begegnet war, wenn er um ein Almosen bat neben dem Wagen, in dem sie von ihren ehebrecherischen Rendezvous heimkehrte, der Blinde, den sie vom Sehen kannte, der Blinde, der sein Lied sang, während der Wagen langsam die Anhöhe hinauffuhr, dem sie eine Münze hinwarf und dessen Anblick ihr Grauen einjagte. Dieser Mann geht auf der Straße vorüber; und in dem Augenblick, da das göttliche Erbarmen der Unglücklichen, die durch einen entsetzlichen Tod für die Sünden ihres Lebens büßt, verzeiht oder Verzeihung verspricht, da erscheint ihr der menschliche Spott in Gestalt dieses unter ihrem Fenster zu hörenden Liedes. Mein Gott! Sie finden, darin liege ein Verstoß; aber Monsieur Flaubert tut nichts anderes, als Shakespeare und Goethe getan haben, die in der Todesstunde irgendein Lied erklingen lassen, ein Klage- oder ein Spottlied, das denjenigen, der hinübergeht in die Ewigkeit, an ein Vergnügen erinnert, das er nicht mehr genießen wird, oder an eine zu büßende Schuld.
Lesen wir:
»Tatsächlich blickte sie um sich, langsam, wie jemand, der aus einem Traum erwacht; dann verlangte sie mit klarer Stimme nach ihrem Spiegel, und sie blieb eine Weile darüber gebeugt, bis ihr dicke Tränen aus den Augen rannen. Dann neigte sie den Kopf aufseufzend nach hinten und fiel ins Kissen.
Sogleich hob und senkte sich ihre Brust in raschen Stößen.«
Ich kann nicht weiterlesen, mir geht es wie Lamartine: »Die Sühne übersteigt für mich jede Wahrheit …« Dennoch habe ich nicht geglaubt, etwas Schlechtes zu tun, als ich diese Seiten meinen verheirateten Töchtern vorlas, ehrbare Mädchen, die gute Beispiele, gute Lehren bekommen haben und die niemals, niemals abgebracht worden sind, durch irgendeine Unbesonnenheit, vom allergeradesten Weg, von den Dingen, die befolgt werden sollen und müssen … Es ist mir unmöglich weiterzulesen, ich werde mich strikt auf die inkriminierten Stellen beschränken:
»Die Arme ausgestreckt, und je lauter das Röcheln wurde (Charles kniete auf der anderen Seite, dieser Mann, den Sie nie sehen und der bewunderungswürdig ist), und je lauter das Röcheln wurde, desto schneller sprach der Geistliche sein Gebet; es mischte sich unter die erstickten Schluchzer Bovarys, und manchmal schien alles unterzugehen im dumpfen Murmeln der lateinischen Silben, die klangen wie Totengeläut.
Plötzlich hörte man auf dem Trottoir das Schlurfen derber Holzpantinen und das Scharren eines Stocks; dann erhob sich eine Stimme, eine heisere Stimme, die sang:
Wenn erst die heißen Tage kommen,
träumt manche Maid von Liebeswonnen.
Sie fuhr hoch wie eine Leiche, die man galvanisiert, mit wirrem Haar, die Augen starr, der Mund weit aufgerissen.
Zu sammeln emsig und munter,
was die Sense schneidet an Ähren,
bückt meine Nanette sich runter
zur Furche, die sie gewähren.
›Der Blinde!‹ schrie sie.
Und Emma begann zu lachen, ein schauriges, irres, verzweifeltes Lachen, denn sie glaubte das scheußliche Gesicht des Bettelmanns zu erblicken, bedrohlich
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