Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
Les Leux, von wo aus man das Tal überschaut. Der Fluss, der sich hindurchzieht, teilt es gewissermaßen in zwei Gebiete unterschiedlicher Physiognomie: alles, was links liegt, ist Grünland, alles, was rechts liegt, ist Ackerland. Die Wiesen erstrecken sich unter einem Wulst niedriger Hügel und stoßen dahinter auf die Weiden des Pays de Bray, während auf der Ostseite die Ebene sanft ansteigt, sich beständig dehnt und, so weit das Auge reicht, ihre gelben Weizenfelder ausrollt. Das Wasser, welches am Gras dahinströmt, trennt mit einem weißen Strich die Farbe der Auen von jener der Schollen, und so gleicht das Land einem großen ausgebreiteten Mantel, der einen grünen Samtkragen hat, gesäumt von einer Silberborte.
Ganz hinten am Horizont hat man bei der Ankunft die Eichen des Waldes von Argueil vor sich, mit den steilen Flanken der Anhöhe Saint-Jean, an der lange, unregelmäßige rote Schlieren von oben nach unten laufen; das sind Regenspuren, und diese Ziegeltöne, die sich als dünne Streifen abheben vom Grau des Berges, stammen von den vielen eisenhaltigen Quellen, welche hinabfließen in das Land ringsum.
Man ist hier an der Grenze zwischen Normandie, Picardie und Île-de-France, eine Zwitterlandschaft, wo die Sprache ohne Färbung ist, so wie die Gegend ohne Charakter. Hier werden die schlechtesten Neufchâtel-Käse des gesamten Bezirks hergestellt, und andererseits kommt der Ackerbau teuer, weil viel Mist gebraucht wird, um die bröckeligen Böden voller Sand und Steine zu düngen.
Bis 1835 gab es keine befahrbare Straße nach Yonville; um diese Zeit aber wurde ein großer Vizinalweg angelegt, der die Straßen nach Abbeville und nach Amiens miteinander verbindet und zuweilen von Rollkutschern benutzt wird, wenn sie von Rouen nach Flandern wollen. Doch Yonville-l’Abbaye ist nicht vorangekommen, trotz seiner neuen Möglichkeiten . Anstatt den Ackerbau zu verbessern, bleibt man hartnäckig beim Grünland, so wenig es auch wert sein mag, und der träge Marktflecken hat sich von der Ebene abgewandt und auf natürliche Weise immer weiter flusswärts ausgedehnt. Man sieht ihn von weitem, der Länge nach hingestreckt am Ufer, als hielte ein Kuhhirt beim Wasser sein Nickerchen.
Am Fuß der Anhöhe, nach der Brücke, beginnt eine mit jungen Espen bepflanzte Chaussee, die einen geradewegs hinführt zu den ersten Häusern der Ortschaft. Sie stehen, von Hecken umfriedet, in der Mitte von Höfen voll vereinzelter Gebäude, Pressen, Wagenschuppen und Brennereien, die ausgestreut daliegen unter dichtbelaubten Bäumen mit angelehnten Leitern, Stangen oder im Geäst hängenden Sensen. Die Strohdächer reichen, tief in die Augen gezogenen Pelzkappen gleich, fast auf ein Drittel der niedrigen Fenster herunter, deren dicke, runde Glasscheiben in der Mitte einen Butzen haben, wie Flaschenböden. An die weißgetünchte Wand, über die schräge schwarze Balken laufen, klammert sich hier und da ein schmächtiger Birnbaum, und die Erdgeschosse haben an der Tür ein kleines Drehgatter, zum Schutz vor den Küken, denn sie kommen bis auf die Schwelle und picken in Cidre aufgeweichte Graubrotkrumen. Allmählich werden die Höfe kleiner, rücken die Wohnhäuser zusammen, verschwinden die Hecken; ein Farnbüschel schaukelt unter einem Fenster am Ende eines Besenstiels; da ist die Werkstatt eines Hufschmieds und anschließend ein Wagner mit zwei, drei neuen Karren draußen, die halb auf der Straße stehen. Schließlich kommt durch einen Lattenzaun ein weißes Haus in Sicht, hinter einem Rasenrondell, das geschmückt ist mit einem Liebesgott, Zeigefinger am Mund; zwei gusseiserne Blumentöpfe stehen an jedem Ende der Außentreppe; Amtsschilder glänzen an der Tür; es ist das Haus des Notars, und das schönste im ganzen Ort.
Die Kirche ist auf der anderen Straßenseite, zwanzig Schritt weiter, wo der Dorfplatz beginnt. Der kleine Friedhof, der sie umschließt, eingefasst von einer brusthohen Mauer, ist mit Gräbern so gut gefüllt, dass die alten Steinplatten auf dem Erdboden ein fortlaufendes Pflaster bilden, und darin hat das Gras von allein gleichmäßige grüne Vierecke gezeichnet. Die Kirche wurde in den letzten Jahren der Herrschaft Karls X. neu erbaut. Das Holzgewölbe beginnt von oben her zu faulen und hat stellenweise schwarze Dellen in seinem Blau. Über dem Portal, wo die Orgel sein müsste, befindet sich ein Lettner für die Männer, mit einer Wendeltreppe, die unter den Holzpantinen kracht.
Das Tageslicht dringt
Weitere Kostenlose Bücher