Madame Bovary
Geistliche
anzunehmen pflegen, wenn sie mit Kindern reden:
»Der Herr ist gewiß nicht von hier? Will der Herr die
Sehenswürdigkeiten der Kathedrale besichtigen?«
»Nein!«
Leo machte zunächst einen Rundgang durch die beiden
Seitenschiffe und kam zum Hauptportal zurück. Emma war noch nicht
da. Er ging abermals bis zum Chor.
Teile des Maßwerks und der bunten Fenster spiegelten sich in den
gefüllten Weihwasserbecken. Das durch die Glasmalerei einfallende Licht brach sich an den marmornen Kanten
und breitete bunte Teppichstücke über die Fliesen. Durch die drei
geöffneten Türen des Hauptportals flutete das Tageslicht in drei
mächtigen Lichtströmen in die Innenräume. Dann und wann ging ein
Sakristan hinten am Hochaltar vorüber und machte vor dem Heiligtum
die übliche Kniebeugung der eiligen Frommen. Die kristallenen
Kronleuchter hingen unbeweglich herab. Im Chor brannte eine
silberne Lampe. Aus den Seitenkapellen, aus den in Dunkel gehüllten
Teilen der Kirche vernahm man zuweilen Schluchzen oder das Klirren
einer zugeschlagenen Gittertür, Geräusche, die in den hohen
Gewölben widerhallten.
Leo ging gemessenen Schrittes hin. Niemals war ihm das Leben so
schön erschienen. Nun mußte sie bald kommen, reizend, erregt und
stolz auf die Blicke, die ihr folgten, in ihrem volantbesetzten
Kleid, mit ihrem goldnen Lorgnon, ihren zierlichen Stiefeletten, in
all der Eleganz, die er noch nie gekostet hatte, und all dem
unbeschreiblich Verführerischen einer unterliegenden Tugend. Und um
sie die Kirche, gleichsam ein ungeheures Boudoir. Die Pfeiler
neigten sich, um die im Dunkel geflüsterte Beichte ihrer Liebe
entgegenzunehmen. Die farbigen Fenster leuchteten, ihr schönes
Gesicht zu verklären, und aus den Weihrauchgefäßen wirbelten die
Dämpfe, damit sie wie ein Engel in einer Wolke von Wohlgerüchen
erscheine.
Aber sie kam nicht. Er setzte sich in einen der hohen Stühle,
und seine Blicke fielen auf ein blaues Fenster, auf das Fischer mit
Körben gemalt waren. Er betrachtete das Bild aufmerksam, zählte die
Schuppen der Fische und die Knopflöcher an den Wämsen, während
seine Gedanken auf der Suche nach Emma in die Weite irrten….
Der Schweizer ärgerte sich im stillen über den Menschen, der
sich erlaubte, die Kathedrale allein zu bewundern. Er fand
sein Benehmen unerhört. Man bestahl ihn
gewissermaßen und beging geradezu eine Tempelschändung.
Da raschelte Seide über die Fliesen. Der Rand eines Hutes
tauchte auf, eine schwarze Mantille. Sie war es. Leo eilte ihr
entgegen.
Sie war blaß und kam mit schnellen Schritten auf ihn zu.
»Lesen Sie das!« sagte sie und hielt ihm ein Briefchen hin.
»Nicht doch!«
Sie riß ihre Hand aus der seinen und eilte nach der Kapelle der
Madonna, wo sie in einem Betstuhle zum Gebet niederkniete.
Leo war über diesen Anfall von Bigotterie zuerst empört, dann
fand er einen eigentümlichen Reiz darin, sie während eines
Stelldicheins in Gebete vertieft zu sehen wie eine andalusische
Marquise, schließlich aber, als sie gar nicht aufhören wollte,
langweilte er sich.
Emma betete, oder vielmehr sie zwang sich zum Beten in der
Hoffnung, daß der Himmel sie mit einer plötzlichen Eingebung
begnaden würde. Um diese Hilfe des Himmels herabzuschwören, starrte
sie auf den Glanz des Tabernakels, atmete sie den Duft der weißen
Blumen in den großen Vasen, lauschte sie auf die tiefe Stille der
Kirche, die ihre innere Aufregung nur noch steigerte.
Sie erhob sich und wandte sich dem Ausgang zu. Da trat der
Schweizer rasch auf sie zu:
»Gnädige Frau sind gewiß hier fremd? Wollen Sie sich die
Sehenswürdigkeiten der Kirche ansehen?«
»Aber nein!« rief der Adjunkt aus.
»Warum nicht?« erwiderte sie. Ihre wankende Tugend klammerte
sich an die Madonna, an die Bildsäulen, die Grabmäler, an jeden
Vorwand.
Programmgemäß führte sie der Schweizer nach dem
Hauptportal zurück und zeigte ihnen mit
seinem Stock einen großen Kreis von schwarzen Steinchen ohne
irgendwelche Beigabe noch Inschrift.
»Das hier«, sagte er salbungsvoll, »ist der Umfang der berühmten
Glocke des Amboise. Sie wog vierzigtausend Pfund und hatte
ihresgleichen nicht in Europa. Der Meister, der sie gegossen, ist
vor Freude gestorben….«
»Weiter!« drängte Leo.
Der Biedermann setzte sich in Bewegung. Vor der Kapelle der
Madonna blieb er stehen, machte eine Schulmeisterbewegung mit dem
Arm und wies mit dem Stolze eines Landmannes, der seine Saaten
zeigt, auf eine Grabplatte.
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