Madame Butterflys Schatten
Joey zu, wie sie sich bei den Lastwagen sammelten und in der Morgensonne lange, schmale Schatten über den staubigen Hof warfen. Stimmen und Gelächter wehten zu ihm herüber, als sie hineinkletterten. Stotternd sprangen die Motoren an, brummten vor sich hin, verklangen allmählich in der Ferne, bis wieder Stille herrschte. Zusammengerollt lag er da, zu groß für das kleine Bett. Untätig. Er war zu einer Unterart der Faultiere geworden, ein verlangsamter Stoffwechsel minderte die Bewegungsfähigkeit. Anders als das Faultier konnte er jedoch nicht auf eine Tarnung vertrauen, auf seinem Körper wuchsen keine Algen, keine schützende Verkleidung, er stach weiterhin aus der Menge heraus, der falsche Mann am falschen Ort. Jeder weiß, was ein Faultier ist, wie es aussieht. Aber was empfindet es? Dieses nahezu bewegungslose Leben, dieser umgekehrte Blick auf die Welt, was fühlte das Faultier? Fühlte es sich gestrandet, ausgeschlossen von all dem, was sich ringsum so schnell bewegte, den raschelnden Blättern, dem rotierenden Erdball, den durch die Lüfte sausenden Vögeln, den krabbelnden Ameisen, dem Wind, der die Äste schüttelte? Weinte ein Faultier im Stillen, einsam und verloren? Fühlte es Schmerz?
Eine Stunde verging. Die Sonne wanderte über den Fußboden. Er begann, ein weiteres Mal die Nägel in den Brettern zu zählen.
Als Mrs. Tanaka an die einen Spalt offen stehende Tür klopfte, forderte Joey sie lustlos auf einzutreten und sah ihr gelangweilt zu, wie sie sich verbeugte und dann abwartend dastand. Nach ein paar Sekunden gab er nach: Er erhob sich langsam vom Bett und brachte eine Art Verbeugung vor der älteren Frau zustande. Aufgrund seiner Beobachtungen wusste er, dass das die korrekte Form der Begrüßung war.
Er musterte sie, den winzigen, drahtigen Körper, die stahlgrauen Haare, das Gesicht so alterslos wie eine Elfenbeinschnitzerei.
»Wollten Sie einen der Jungs sprechen?«
»Ich wollte mit Ihnen sprechen, Mr. Pinkerton.«
»Sie können mich ruhig Joey nennen.«
»Aber wir sind doch keine Freunde.«
»Wir sind Lagergenossen. Reicht das nicht?«
»Das reicht für das Zusammenleben, nicht für Vertraulichkeiten.«
Ruhig, nervtötend selbstsicher, Stimme und Tonfall durch und durch amerikanisch mit einem Hauch Ostküste. In einem Film würde man sie als Wissenschaftlerin an einer Eliteuniversität besetzen. Oder vielleicht auch als furchteinflößende Großmutter.
Zweifellos wollte sie etwas von ihm. Sie schien zu wachsen, als sie seinen Blick erwiderte.
»Mr. Pinkerton. Ich habe Sie beobachtet.«
Wieder eine Frau, die ihn beobachtete. Wieder ärgerte er sich.
»Ich habe Sie dabei beobachtet, wie Sie andere beobachten.«
»So vertreibt man sich die Zeit.«
»Vielleicht gibt es bessere Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben. Sie könnten Anschluss …«
Er fiel ihr ins Wort. »Ich suche keinen Anschluss. Ich bin hier wegen einer bürokratischen Spitzfindigkeit. Ich habe mit diesen Leuten nichts gemeinsam, ich empfinde nichts …«
»Sie wissen nichts. Warum sollten Sie etwas empfinden? Sie müssen ein paar Dinge lernen.« Kurze Pause. »Über diese Leute .«
Ihr Ton, ihr Gesichtsausdruck waren freundlich. Ihre Augen hinter den kleinen gläsernen Schutzschilden nicht.
Seine Gereiztheit wuchs. Was wollte diese Frau von ihm? War sie einfach nur hier, um ihm einen Vortrag zu halten, um ihm zu sagen, er solle sich zusammenreißen? Spielte sie seine Mutter? Nun, davon hatte er bereits zwei, das war ja wohl genug.
»Es sind viele Kinder hier in Tule Lake«, sagte sie, »und es ist notwendig, sie zu beschäftigen. Und etwas für ihre Bildung zu tun.«
»Es gibt Lehrer.«
»Ich dachte dabei nicht an gewöhnlichen Unterricht. Hier gibt es Kinder, die sprachlich sozusagen zwischen zwei Stühlen sitzen. Sie haben ihre Muttersprache verloren, und deshalb verstummen sie. Die richtige Person könnte zu ihnen durchdringen, ihnen wieder eine Stimme geben.«
»Ich spreche kaum Japanisch.«
»Eben.«
»Ich weiß nicht, wie das funktionieren soll.«
»Das kommt schon.«
Es gab verschiedene Möglichkeiten, mit aufdringlichen alten Damen fertig zu werden: Er könnte ihr höflich, aber bestimmt erklären, dass er kein Interesse hatte. Er könnte sich taub stellen und die ganze Sache einfach vergessen. Er könnte grob werden und ihr sagen, sie solle sich zum Teufel scheren.
Sie sagte: »Es muss ein Trost für Sie sein, Mr. Pinkerton, zu wissen, dass Sie Ihren Lagergenossen überlegen
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