Madame Butterflys Schatten
Schätze, aber dann kam die Pest …«
Er holte tief Luft und wagte es, die Taktik zu wechseln: Bei seinem letzten Besuch war ihm aufgefallen, dass sie nach Dienstschluss in einem alten, abgegriffen aussehenden Buch gelesen hatte. »Dante hatte einiges dazu zu sagen.« Sie blickte auf. »Würden Sie gern mehr darüber erfahren? Bei einem Abendessen?«, fügte er hinzu. »Ich verspreche auch, dass ich kein Wort mehr über Wolle verliere.« Vorsichtig: »Was halten Sie von Lyrik?«
In ihrem nächsten Brief an Joey erwähnte Nancy, sie habe einen Engländer kennengelernt, der als Verbindungsmann für die amerikanischen Streitkräfte arbeitete.
Er ist komisch , schrieb sie . Komisch im Sinn von witzig, nicht seltsam. Es ist lange her, dass ich das letzte Mal gelacht habe. Nach Marys Tod konnte sie ein bisschen Aufmunterung brauchen. Zwar hatte ihre Mutter in den letzten Jahren ihr Schlafzimmer nicht mehr verlassen, trotzdem kam ihr das Haus ohne sie leer vor; Louis schrumpfte in sich zusammen und wurde immer stiller.
Sie erkundigte sich nach Joeys Gesundheitszustand und nach dem Essen, ach ja, apropos Essen, sie schicke ihm wieder ein Päckchen, sie hatte einen Kuchen für ihn gebacken … Der Brief klang wie alle anderen unverdrossen optimistisch. Finstere Gedanken waren nicht zugelassen, und außerdem fragte sie sich sowieso oft, ob strittige Themen durch die Zensur gehen würden. Worüber kommunizierten sie wirklich? Was ging Joey wirklich durch den Kopf?
Sie schrieb nichts weiter von sich, aber in ihrem nächsten Brief schickte sie ihm ein neues Gedicht. Sie erklärte, sie sei »zufällig darauf gestoßen«. Kein Wort von dem Engländer, der sie zum Lachen brachte.
Joey steckte den Brief zu den anderen in die Tasche unter seinem Bett, zwischen die Seiten von Boas’ Aufsatz über die Geschichte der amerikanischen Rasse geklemmt. Das Gedicht legte er zur Seite, um es später zu lesen.
Kapitel 39
ER HATTE AUFGEHÖRT zu zeichnen. Er hatte aufgehört zu lesen. Anthropologen, die in entlegene Gebiete reisten, um dort dem Fremden zu begegnen, boten keine Einblicke in das innere Exil. Er gab die Rolle des teilnehmenden Beobachters auf, blieb den Feiern fern und beteiligte sich auch nicht an der gemeinschaftlichen Gartenarbeit, all den komplizierten Mustern des Gebens und Nehmens, die die Bewohner der Südseeinseln gekannt und gutgeheißen hätten. Zwischen seinen freiwilligen Arbeitsschichten lag er auf der schmalen Pritsche und starrte an die Wand. Er beobachtete eine Fliege oder verfolgte, wie ein Sonnenstrahl über Wände und Boden der Baracke kroch, stellte fest, dass die Sonne das blanke Holz im Lauf der Wochen und Monate ausgeblichen und ein Muster zurückgelassen hatte, die Holzfasern der Bretter waren trocken und sahen aus wie gebrochenes Stroh.
Er befand sich in einem scheintodähnlichen Zustand, der ihm half, die Tage zu überstehen. Er hatte beschlossen, seiner Fantasie Zügel anzulegen. Weit weg ging der Krieg weiter, Schlachten wurden gewonnen oder verloren, Menschen töteten und wurden getötet. Befand sich unter denen, die getötet wurden – durch Kugeln oder Bomben –, auch eine Frau in einem Zimmer aus Holz und Papier, die einen Kimono trug, Hühner fütterte und lachend durch den Regen lief?
Zur Untätigkeit und Ohnmacht verurteilt, hatte er keinen Anteil am derzeitigen Leben. Lerne deine Scheuklappen lieben. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage hat.
Jeden Morgen kamen in aller Frühe die Lastwagen, die die Arbeiter zu den Rübenfeldern brachten und sie am Abend bei den Toren wieder ausluden. Joey war klar, dass er einen erbärmlichen Rübenbauern abgegeben hätte: weiche Hände, ein Rücken, der zu lang war, um sich damit über niedrige Pflanzen zu beugen, unerfahren im Anbau dieser ebenso merkwürdigen wie wertvollen Feldfrucht. Ichir ō , Taro und Kazuo, Stadtjungen ohne landwirtschaftliche Vorkenntnisse, entwickelten rasch eine gewisse Fertigkeit, bewegten sich flink an den grünen Blätterbüscheln entlang, jäteten Unkraut, suchten nach Schädlingen, dünnten die dichten Reihen aus, rissen junge Pflanzen heraus, um Platz für die anderen zu schaffen. Mit Geschick, Arbeitseifer und Ausdauer retteten die Lagerinsassen die Ernte.
Ichir ō sah die Sache realistisch: »Die Söhne der Farmer sind jetzt alle als GIs in Übersee. Die nehmen jeden, der zwei Arme und zwei Beine hat; die würden sogar dich nehmen, Joey, warum kommst du nicht mit?«
Durch das Barackenfenster sah
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