Madame Butterflys Schatten
hin mit der stummen Bitte, ihn vorzuführen.
»Früher war er mal leuchtend gelb und rot«, sagte Joey, während er ihn drehte, »und die Farbe glänzte.«
Sie sprachen die Worte nach. Nickten.
»Er stammt aus Nagasaki. Wo ich geboren wurde.« Dann: »Meine Mutter ist Japanerin.«
Ist Japanerin. Meine Mutter ist in einem Land, das wir zu zerstören versuchen. Eine Frau in einem dunklen Kleid. Sie sitzt da, die blassen Hände in den Schoß gelegt. Vielleicht liegt sie auch unter Trümmern begraben, zerschmettert. Dieses Mal wirklich tot.
Es folgte das gewohnte Gemurmel, von der Großmutter aufgeschnappte Wendungen, Worte, Erklärungen, die ein Kind an das nächste weitergab. Nickende Köpfe.
Er stellte fest, dass alle ihn ansahen, aber auf einmal mit einem anderen Blick, sie musterten ihn zweifelnd. Er musste an Ichir ō s Witzchen denken: Komisch, du siehst überhaupt nicht so aus …
Er klopfte an die Tür von Mr. Murakamis Zimmer.
»Ah, sensei …«
»Ihre Schnitzerei«, sagte Joey, »die Affen …«
»Ah. Eine nützliche Beschäftigung. Ich habe am Zaun ein Stück Holz gefunden. Hartes Holz. Gut zum Schnitzen, selbst mit behelfsmäßigem Werkzeug.«
Er wartete, sah seinen Besucher lächelnd an. Der junge Mann war nicht gekommen, um sich mit ihm über Affen zu unterhalten.
»Läuft der Unterricht gut?«
»Ja, ich hatte mit Schwierigkeiten gerechnet, aber sie sind … ruhig.«
»Ah. Sie genießen die Vorteile von giri .«
»Was ist das?«
»Schwer zu übersetzen … eine Form des Verhaltens, ein ethischer Kodex, den wir verinnerlicht haben, eine Mischung aus Pflichtbewusstsein, Gehorsam, Sinn für Gerechtigkeit und Moral. Durch giri sind wir unseren Eltern verbunden, aber auch …«, ein Lächeln, »unseren Lehrern.«
»Also deshalb machen sie es mir so leicht. Ganz schön hart für die Kinder.«
»Sie würden das nicht so sehen. Giri hat eine so große Bedeutung, dass manche Japaner, wie man weiß, lieber Selbstmord begangen haben, als dagegen zu verstoßen.«
Es fiel Joey schwer, den Grund seines Hierseins zu erklären. Er wollte etwas erfahren, er brauchte Antworten, aber seine Unwissenheit war so groß, dass er nicht einmal die Fragen formulieren konnte.
»Es ist hoffnungslos. Ich verliere mich in den Einzelheiten, bevor ich dem eigentlichen Gegenstand auch nur nahe komme. Wo soll ich anfangen?«
Ein langer, unsicherer Atemzug. Mr. Murakami schien von einem Anfall von Zuckungen und Tics heimgesucht zu werden: Er schüttelte wiederholt den Kopf, schnalzte mit der Zunge, rieb sich den Nacken, wirkte gedankenverloren. Mit der Zeit sollte sich Joey an diese traditionelle japanische Reaktion auf eine kniffelige Frage gewöhnen. Dieses erste Mal dachte er besorgt, dass der kleine alte Mann offenbar von irgendwelchen Schmerzen gequält wurde.
Nach längerem Schweigen begann Mr. Murakami schließlich zu sprechen. Er äußerte die Ansicht, dass die Japaner ein Geschick für kleine Dinge hätten, große Gesten dagegen lägen ihnen nicht. Joey war erleichtert.
»Mit kleinen Dingen komme ich zurecht.«
Um ehrlich zu sein, wusste er nicht genau, worum es sich bei den großen Gesten handelte.
»Ich habe da neulich ein Wort gehört … wabi-sabi . Aber ich komme nicht darauf, was es bedeutet.«
»Ah. Das ist kein Wort, sondern eine Wendung, sie hat nicht nur eine Bedeutung, sondern viele … wabi-sabi hat etwas mit Tao und Zen zu tun, und beides ist eine Welt für sich. Nichts ist von Dauer. Nichts ist vollkommen. Nichts ist vollständig. Wabi-sabi bezieht sich auf die – nun ja – Vergänglichkeit des Lebens, die Freuden des Flüchtigen, die Schönheit des Unvollkommenen. Eine gesprungene Vase besitzt ihre eigene Schönheit.«
Er bemerkte Joeys zunehmende Verwirrung. »Man betritt ein Labyrinth. Da kann man sich leicht verirren!«
Aber eine zugige Unterkunft in einer mit Teerpappe gedeckten Baracke in einer erbarmungslosen Landschaft war genauso gut geeignet wie jeder andere Ort, um den ersten Schritt zu machen.
»Wir müssen uns Zeit lassen, Sie werden vielleicht glauben, dass es zu langsam vorangeht.«
Doch mit der Zeit, sagte Mr. Murakami beruhigend, würden sie Fortschritte machen. Etwas weniger beruhigend fügte er hinzu, dazu gehöre kokoro , was so viel wie »das Herz der Dinge« bedeute oder »fühlen«, und auch das müsse erforscht werden, obwohl man sich nie sicher sein könne, dass man tatsächlich bis zum Herzen der Dinge vorgedrungen war.
»Ich frage mich, ob ein Fremder Japan
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