Madame Butterflys Schatten
sind.«
»Ich betrachte mich nicht als überlegen.«
»Aber als anders?«
Er schwieg.
»Und das gibt Ihnen das Recht, unhöflich zu sein.«
»Ich werde es nie begreifen, was die Japaner alles als unhöflich betrachten«, erwiderte Joey heftig.
»Ich glaube, mein Benehmen in diesem Augenblick würde man für ausgesprochen unhöflich halten, Mr. Pinkerton. Ich glaube, ich benehme mich ziemlich amerikanisch. Sie müssten sich eigentlich wohlfühlen. Aber was Sie fühlen oder nicht, ist für mich nicht von Interesse. Ich will etwas für diese Kinder tun.«
Joey hatte von der chinesischen Wasserfolter gehört. Das hier könnte als japanische Altdamenvariante durchgehen, dachte er.
»Mrs. Tanaka, Sie bedrängen mich«, sagte er.
Sie sahen einander einen Moment in die Augen.
»In diesem Fall muss ich mich entschuldigen, das würde bedeuten, dass ich mich sehr schlecht benommen habe. Aber es gibt nicht nur eine Art, das zu tun.«
Joey kam zu dem Schluss, dass ihr Blick tatsächlich scharf war, aber nicht so scharf wie ihre Zunge.
Sie hob fragend die Augenbrauen. »Wollen wir uns unterhalten?«
Kapitel 40
ALS ER DEN Unterrichtsraum betrat, war er auf alles Mögliche gefasst: Unaufmerksamkeit, Gezappel, vielleicht Aufsässigkeit – die Art von Radau, wie er sie aus seiner eigenen Schulzeit kannte. Stattdessen erwartete ihn Stille. Kinder unterschiedlichen Alters saßen im Schneidersitz auf dem Boden – es gab weder Tische noch Stühle – und blickten gleichmütig zu ihm hoch. Einen Moment überkam ihn Panik: Das könnte noch schlimmer werden, als er es sich vorgestellt hatte.
Er begrüßte sie, und seine Worte klangen in seinen eigenen Ohren herzlich, heuchlerisch. Er an ihrer Stelle hätte einem jungen Kerl mit rosigem Gesicht, der kein Japanisch sprach, der nicht einmal eine Brille trug, nicht über den Weg getraut, wie schlau konnte so einer schon sein?
Er beschloss, einen vorsichtigen Schritt zu wagen, langsam vorzugehen, sie für sich zu gewinnen. Vor ihm saßen Kinder, die wie er fast kein Japanisch sprachen, daneben andere, für die Englisch eine Fremdsprache war. Er würde die Sache von der anderen Seite angehen. »Ohayo gozaimasu!«, rief er fröhlich.
Sie begannen zu kichern und zappelten vergnügt herum. Sein Versuch, sie auf Japanisch zu begrüßen, mochte hinsichtlich der Aussprache einiges zu wünschen übrig lassen, aber er hatte damit auf jeden Fall das Eis gebrochen.
Er hob eine Hand. Sofort war es wieder still.
»Jetzt bringt ihr mir bei, wie man es richtig ausspricht. Ich will es von jedem von euch hören.«
Er stand vor ihnen und sah sie aufmunternd an, und einer nach dem anderen wiederholten sie die Worte, manche flüssig, andere ebenso stockend wie Joey. Als sie fertig waren, wiederholte er sie. Dieses Mal lachte niemand.
Joey ging es gemächlich an. Wie viele von ihnen sprachen Englisch? Hand hoch. Und wie viele sprachen außerdem Japanisch? Und wer sprach kein Japanisch? Gut. Er suchte ein Hauptwort aus, ein komisches Eigenschaftswort, ein selten gebrauchtes Zeitwort und fragte nach den japanischen Entsprechungen. Anfangs blieben die Kinder stumm, wollten sich nicht zu diesem albernen Spiel herablassen. Langsam brachte er sie dazu mitzumachen, tastete sich zu japanischen Sätzen vor, bei denen sie ihm helfen konnten.
Er wies ihnen neue Plätze zu, setzte englischsprachige Kinder neben solche, die nur Japanisch sprachen. Variierte seine Vorgehensweise. Er begann, ihnen Fragen zu stellen, achtete darauf, dass diese einfach waren, leicht zu wiederholen. Fiel ihnen auf, dass er die japanischen Sätze ebenfalls wiederholte, sich jedes Wort merkte? So lernte man auswendig. Eine Silbe, ein Klang, allmähliches Verstehen, ein Ritual, das Benennen von Dingen.
Sie hörten zu, wiederholten. Begannen selbst, Fragen zu stellen. Er ließ sie Gegenstände im Unterrichtsraum suchen und benennen. Hin und wieder brachte er sie zum Lachen.
Am Ende der Stunde war Joey erschöpft, die Kinder quietschvergnügt.
Jeden Tag brachte er sie ein kleines Stück weiter. Auf Kinderreime für die Jüngsten folgten ein oder zwei Strophen von Paul Revere’s Ride , er wagte sich sogar an Archy und Mehitabel: »Gut, da gibt es also diese Katze, diese neko , und die Kakerlake – Kakerlake? Gokiburi? Okay. Und die beiden sind Kumpel …«
Unterdessen machte er seine Hausaufgaben: In seiner Baracke schrieb er Wörter ab, markierte Betonungen, prägte sich Nuancen ein.
Eines Tages kam er mit etwas Neuem:
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