Madame Butterflys Schatten
aussieht, bist du also dort raus!!«
Später wurde ihr klar, dass sie aus seinen Briefen hätte herauslesen können, wie er jetzt dachte. Seine Antwort war ein Schock für sie.
»Liebe Nancy, es ist sehr lieb von dir, all die Mühe auf dich zu nehmen, aber ich will hierbleiben und sehen, was weiter passiert. Ich nehme an, ein Lager ist der richtige Ort für feindliche Ausländer wie uns. Ich muss mich kurz fassen – heute Abend findet ein Konzert statt, und wir müssen noch proben. Wer hätte geglaubt, dass sich der Flötenunterricht in der Schule einmal bezahlt macht? Ich habe zwar bloß ein paar Takte zu spielen, aber die sind ganz schön kompliziert: Charles Ives – hättest du das gedacht?«
Beim Verlassen des Speisesaals gerieten Joey und seine Mitspieler in einen Tumult: Internierte Kohlearbeiter hatten mehr Lohn gefordert und waren gefeuert worden. Fügsamkeit schlug um in Wut, Ziegelsteine und Schimpfworte flogen durch die Luft. Beschämt stellte Joey fest, dass draußen vor der Baracke Männer einem anderen Akkord gefolgt waren, während er mit seiner Band drinnen für ein Konzert mit amerikanischer Musik geprobt hatte.
Dem Herbst folgte eine Zeit der Verbitterung: Zum Erntedankfest blieben die Schüsseln mit Essen unberührt stehen – »Erntedank? Wofür?« Den japanischen Festen fehlte die Fröhlichkeit, Weihnachten geriet zu einer traurigen Mischung aus bunten Laternen und Weihnachtsliedern. Es gab Nikoläuse aus Käse und klebrigem Reis und geschmückte Bäume, die nicht japanisch und noch viel weniger amerikanisch aussahen. Ein trostloses neues Jahr.
Joey lag mit geschlossenen Augen auf seinem Bett, ein aufgeschlagenes Buch auf der Brust, als Ichir ō die Tür aufriss.
»Schläfst du?«
»Ich bin gerade mit Ruth Benedict mitten in einem mexikanischen Pueblo.«
»Sag ihr, sie soll sich zum Teufel scheren.«
»Ichi, die sind so japanisch . Diese Kultur der Selbstbeherrschung …«
»Das ganze Lager befindet sich in heller Aufregung.«
Erstauntes Kopfschütteln.
»Sie führen eine Befragung zur Staatstreue durch. Ich habe den Fragebogen gerade gelesen. Völliger Schwachsinn, Joey, diese Leute haben einen Knall. Die wollen, dass wir ihnen Treue schwören? Einem Land, das uns hinter Stacheldraht gefangen hält? Ergibt das einen Sinn?«
»Die waren schon immer paranoid …«
»Man muss vor allem zwei spezielle Fragen mit Ja beantworten, um zu bestehen. Sie verlangen von jedem, dass er die japanische Staatsbürgerschaft aufgibt. Wollen die uns vielleicht auf den Arm nehmen? Für die meisten alten Leute ist das die einzige Staatsbürgerschaft, die sie besitzen, die Regierung würde doch niemals zulassen, dass sie Bürger der Vereinigten Staaten werden. Sie können nur verlieren. Wenn sie unterschreiben, sind sie staatenlos. Außerdem müssen sie Treue und Gehorsam gegenüber dem Kaiser abschwören. Die Leute sind völlig verwirrt und verängstigt: Das ist so, als hätten sie den Kaiser bis jetzt unterstützt. Genauso gut könnte man fragen: Wann haben Sie aufgehört, Ihre Frau zu schlagen? Die Alten sind in Tränen aufgelöst. Überall im Lager hört man sie weinen. Sie sind verloren, Joey. Wir alle sind verloren. Was zum Teufel soll aus uns werden?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte er aus der Baracke. Joey stand auf und sah ihm nach, wie er mit eingezogenen Schultern davoneilte, sich die Augen rieb und dabei den Kopf hin und her warf wie ein Hund, der Wasser abschüttelt.
Joey nahm an, dass sich das Ganze wieder als eines der im Lager kursierenden Gerüchte entpuppen werde, aber es stimmte: »Der Fragebogen zur Staatstreue muss von allen Internierten über siebzehn Jahre ausgefüllt werden.« Männer und Frauen, teils aufgebracht, teils verwirrt, einige von ihnen nicht einmal des Englischen mächtig, wurden mit einer langen Liste von Fragen konfrontiert, die unverzüglich beantwortet, unterschrieben und beglaubigt werden musste.
Die Tür der Verwaltungsbaracke stand offen, trotzdem blieb Joey draußen stehen und beobachtete den leicht übergewichtigen Leutnant, der sich in irgendwelche Unterlagen vertieft hatte. Endlich blickte er auf und gab ihm mit einem kurzen Blick zu verstehen, dass er jetzt ansprechbar war. Er wartete, schob den Kaugummi, auf dem er herumkaute, von einer Seite auf die andere. Schweigend legte Joey seine Unterlagen auf den Schreibtisch. Der Leutnant warf einen Blick darauf, zog sie mit der flachen Hand näher zu sich heran und überflog sie mit müdem, glasigem
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