Madame Butterflys Schatten
jemals verstehen kann«, sagte Joey. »Es ist ein Spiegelland – je näher man ihm kommt, desto weiter rückt es in die Ferne.«
Mr. Murakami hatte dafür ein japanisches Wort parat – kaizen –, das man mit »ständiger Verbesserung« übersetzen könne, allerdings befürchte er – ein kleines Lächeln –, dass es keine exakte amerikanische Entsprechung dafür gebe. Aber wie dem auch sei, sie würden nicht so schnell aufgeben.
Wenn sie gemeinsam dieses ferne Land erforschen, in dem Joey geboren wurde, seine Geschichte, die Gründe, warum etwas so und nicht anders ist, den Anfang von diesem oder jenem, hat Joey das Gefühl, sich langsam zu drehen. Zwischen Wachen und Träumen streifen ihn flüchtige Momente, Bruchstücke längst vergessener Erlebnisse. Es gibt mehr als eine Vergangenheit, an die er sich erinnern muss.
Dabei gerät er in einen Zustand des Schwebens, der Nichtexistenz. Er hatte gedacht, er sei dabei, seiner Identität auf den Grund zu gehen, der alten Frage: Wer bin ich? Als er tiefer in das Labyrinth vordringt, stellt er fest, dass die Frage eher lautet: Was ist ein Ich?
»Es gibt viele Wörter für ich und du, jedes davon mit einer eigenen Bedeutung, eigenen Grenzen. Darüber hinaus gibt es lautmalerische Wörter, die den Klang eines Wortes nachahmen oder die Empfindung, die es weckt. Das ist wichtig …
Nehmen wir das Wort ›fließen‹. Ein klarer Fluss fließt sara-sara , das weckt die Empfindung von Wasser. Eine elegante Dame geht saya-saya mit dem Rascheln ihrer Kleider …«
»Ja!«
Joey stieß einen Jubelruf aus. Nancy hatte ihm einmal ein Gedicht vorgelesen, in dem ein Dichter die Dame seines Herzens dabei beobachtet, wie sie auf ihn zukommt, und der Junge hatte ein neues Wort gelernt, das nun Früchte trug, saya-saya .
»Es gibt da ein englisches Gedicht. ›Wenn im Seidenkleide meine Julia schreitet, dann denke ich, wie fließend gleitet doch diese reizende Verflüssigung von Stoff‹ …«
Mr. Murakami nickte. Verflüssigung von Stoff. »Ah ja.« Laut dachte er darüber nach, dass das Englische letztlich doch mehr mit dem Japanischen gemein hatte, als er gedacht hätte, und dass sie Fortschritte machten.
»Als Nächstes könnten wir uns Brückenwörter ansehen, Scharnierwörter – kakekotoba –, Sie würden es Wortspiele nennen. Das wird Ihnen Spaß machen.«
Aber kokoro lag in weiter Ferne.
»Wie wäre es inzwischen mit einer Tasse Tee«?, schlug Mr. Murakami vor, er hatte sich eine Vorrichtung gebastelt, mit deren Hilfe er auf dem Holzofen Wasser kochen konnte.
An einer Wand der Baracke hing an einem rostigen Nagel eine Schriftrolle, ein paar hingeworfene Linien, meistens grau oder schwarz, nichts, von dem Joey angenommen hätte, dass man es an die Wand hängte wie eine Mohnblume von Georgia O’Keefe oder eine Landschaft von Wyeth.
Ohne sich anmerken zu lassen, dass ihm Joeys Blick zu der Schriftrolle nicht entgangen war, lenkte Mr. Murakami das Gespräch auf Joeys Zeichnungen: Er würde es als Ehre betrachten, wenn er sich einmal die eine oder andere ansehen dürfte. Erneut musste Joey erkennen, dass er das Interesse anderer auf sich gezogen hatte. Mr. Murakami reichte ihm eine kleine Porzellantasse mit einer grünlichen Flüssigkeit. Während Joey einen Schluck davon trank, fragte er sich, was das japanische Wort für »ekliger Geschmack« sein mochte.
»Betrachten Sie sich als Künstler?«
»Nein. Bestenfalls als Handwerker.«
»Ah.«
Dann kam Mr. Murakami auf den seltsamen Umstand zu sprechen, dass es im Japanischen bis vor Kurzem kein Wort für »Kunst« gegeben hatte.
»Der Begriff, der dem am nächsten kommt, ist geijutsu , der sich mit ›Form und Gestalt‹ übersetzen ließe. Man könnte sagen, dass Kunst und Leben für uns eins sind, beides sollte einen praktischen Nutzen und geistige Klarheit in sich vereinen.«
Er nahm einen Bildband mit Holzschnitten von einem aus zusammengesuchten Brettern gebauten Regal und blätterte langsam die Seiten um.
»Der japanische Künstler ist eher ein Dichter als ein Maler. Er achtet nicht auf die Gesetze von Perspektive und Licht und Schatten. Er versucht, die Empfindungen einzufangen, die durch die Erinnerung an ein Ereignis hervorgerufen werden, die Empfindungen, die er zwischen Wachen und Träumen verspürt.«
Joey nahm das Buch in die Hände, während Mr. Murakami über kalligrafische Schönheit, kraftvolle Linien sprach – »das rührt vielleicht daher, dass man in Japan aus dem Ellbogen zeichnet und nicht
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