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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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aus dem Handgelenk, wie man es in der westlichen Kunst macht«.
    Die Erinnerung an ein Ereignis … die Empfindungen zwischen Wachen und Träumen …
    Irgendwo dreht sich ein Rad, und unendlich langsam wird er gehäutet, nach und nach wird das Fleisch von seinem Körper gezogen, bis sein amerikanisches Selbstgefühl von ihm abgeschält ist. Aber was tritt an dessen Stelle?

Kapitel 41
    ALS SICH DER Sommer seinem Ende näherte, nahm der Himmel eine schmutziggelbe Färbung an, die kümmerlichen Bäume rings um den Zaun verloren ihr Laub, verwelkte Blätter fielen langsam zu Boden wie schmutzige Schneeflocken und blieben in Verwehungen auf der harten Erde liegen. Das Lager war geteilt, die Trennung so deutlich zu erkennen wie die roten, weißen und blauen Schichten des Biskuitkuchens, der am 4. Juli serviert wurde. Der Riss verlief zwischen den Generationen: Die Kinder gingen in die Schule und spielten Mannschaftsspiele. Die jungen Männer debattierten in Grüppchen aufgeregt miteinander, strahlten Feindseligkeit aus. Die älteren Lagerinsassen sahen zu und warteten ab, mit der Geduld, die sie die lebenslange Erfahrung gelehrt hatte.
    Als die Temperaturen fielen, heizte sich die Stimmung in den Baracken auf. Streitigkeiten wegen der Arbeit, Ressentiments, lange erduldete Schmerzen der einen oder anderen Art, all das kam zusammen und führte zu Unruhe. Es fiel ein unglückseliger Schuss: Ein Mann wurde bei einem angeblichen Fluchtversuch erschossen, der Soldat wegen »Zweckentfremdung öffentlichen Eigentums« – einer Kugel – bestraft und mit einer Geldbuße in Höhe von einem Dollar belegt.
    Wenn Joey, der immer tiefer in der Vergangenheit versank, so wie jetzt mit der Gegenwart konfrontiert wurde, stieß diese schmerzhaft mit einer verlorenen Welt zusammen, deren Wesen diejenigen, die noch dazu in der Lage waren, in ihren Geschichten lebendig werden ließen. Die Realität riss ihn aus der verlockenden, kontemplativen Stille, in der er einen Traum lebte; geführt von alten Händen, wanderte sein Fernrohr über die Landschaft der Vergangenheit und zeigte ihm Kaiserhöfe und Herrscher, Krieger, Zeremonien, die Entstehung und Entwicklung eines geschlossenen Reiches.
    Und dann gab es da auch noch die jüngere Vergangenheit, die fünf schwarzen Fregatten Perrys, die 1853 in den Hafen von Edo eingelaufen waren, und alles, was der Jahrhundertwende folgte. Innerhalb der engen Grenzen des Lagers erforschte er unbekannte Welten, nahm Anteil an den kleinen Tragödien und Triumphen gewöhnlicher Menschen, an ihrer Hoffnung und ihrer Verzweiflung.
    Er ging durch die Baracken, durch die kahlen Räume, saß im Schneidersitz auf dem Boden und hörte zu, wenn ihn die Stimmen dieser stillen Menschen, die einen flüssig, die anderen stockend, in die Vergangenheit entführten.
    »Meine Großmutter war eine Fotobraut … Sie hat meinen Großvater zum ersten Mal auf Ellis Island gesehen. Davor kannten sie sich nur von Fotos, er hat ihr seinen Heiratsantrag brieflich unterbreitet. Sie trug einen Hut mit Blumen. Eine der Blumen zog sie heraus und überreichte sie ihm …«
    »Mein Großvater kam aus Osaka nach Oregon. Er war Farmer. Er hat Kohl und Kürbisse angepflanzt. In vierzig Jahren hatte er keinen einzigen freien Tag …«
    »Mein Vater ging aufs College. Er hat Mathematik studiert. Hat sein Diplom gemacht, promoviert … Meine Mutter war froh, dass er Pearl Harbor nicht mehr miterleben musste.«
    »Meine Familie hat einen Laden … hatte einen Laden – wir haben Schuhe verkauft. Die amerikanischen Schuhe sind zu groß für japanische Füße, wir haben kleine Größen importiert …«
    »Wir haben einen Fischkutter … Uns blieb keine Zeit, ihn zu verkaufen, bevor wir interniert wurden, wir haben ihn im Hafen vertäut …«
    »Bevor meine Mutter nach Amerika kam, hat sie sich jede Woche um den Blumenschmuck in der baptistischen Kirche in Nagasaki gekümmert …«
    Nagasaki? Kannte sie vielleicht ein Mädchen namens Cho-Cho, das einen amerikanischen Seemann geheiratet hatte …
    Aber die Frau mit dem Blumenschmuck, Mrs. Shioyas Mutter, gehörte einer untergegangenen Vergangenheit an, wo alle schon lange tot waren. Anders als Cho-Cho, die weiterlebte, unerreichbar. Es sei denn, auch sie war inzwischen eine Zahl in einer Statistik.

Kapitel 42
    NANCY HATTE FÜR Joey ein College in Massachusetts ausfindig gemacht, an dem er sein Studium fortsetzen konnte. Sie berichtete ihm die Neuigkeiten und beendete ihren Brief frohgemut: »Wie es

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