Madame Butterflys Schatten
das?«
»Das wirst du dann schon sehen. Ich werde welche machen. Du kannst mir beim Auspressen der Zitronen helfen.«
»Was ist A-us-pres-sen?«
»O Mann«, murmelte Louis, »das wird mühsam werden.«
»Nein«, sagte Mary, »das braucht nur Zeit.« Sie winkte dem Jungen. »Na komm, dann wollen wir beide uns mal ans Auspressen machen.«
Zu Nancys Erleichterung stellten ihre Eltern nur wenige Fragen. Bei ihren Freunden und Bekannten verhielt sich die Sache etwas anders, sie musste die Anwesenheit eines Kindes erklären, das Ben so ähnlich sah, dass sich dessen Vaterschaft nicht leugnen ließ. Sie legte sich eine Geschichte zurecht – ein Märchen von einer lange zurückliegenden Romanze in einem anderen Land, einer Ehe, die durch den Tod der Frau ein tragisches Ende gefunden hatte. Die Leute murmelten: »Der arme Kleine!« und musterten den Jungen neugierig, ein so ernstes, stilles Kind. Anschließend bedachten sie Nancy mit einem mitleidigen Blick: die arme junge Frau, sich einen Witwer mit Kind aufzubürden.
Nach einiger Zeit brachte sie es nicht mehr über sich, die »Fakten« zu wiederholen, und überließ es ihren Eltern, sie je nach Gelegenheit in die passenden Worte zu kleiden. Die Geschichte variierte und rief mitunter Verlegenheit hervor. Unterdessen wartete Nancy darauf, dass Ben von seiner Fahrt zurückkam.
Zum ersten Mal würden sie sich wieder gegenüberstehen nach jenem letzten Tag in Nagasaki, an dem sie in der Rikscha den Hügel hinuntergerast waren und sich über den Kopf des Kindes hinweg angebrüllt hatten, Ben zuerst verwirrt, dann verärgert.
»Was in aller Welt …«
»Ich erkläre es dir später.«
Nancy trieb den Rikschafahrer zu noch größerer Eile an. Es war jedoch bereits zu spät, irgendetwas zu erklären, genau wie es zu spät war umzukehren.
Kapitel 11
DAS SCHIFF ERREICHTE die Küste von Oregon: Ben kam an Land, und anstelle der geplanten großen Hochzeit gab es nur eine schlichte kleine Zeremonie.
Die Stimmung war gedämpft. Der Pfarrer nahm Nancy zur Seite und erklärte ihr mit der leisen, eindringlichen Stimme, mit der man den vom Unglück Heimgesuchten Trost spendet, der Junge sei ein Segen für sie, eine Gelegenheit.
»Der Herr stellt uns vor Prüfungen, Nancy, und wir gehen gestärkt wie gehärteter Stahl aus einer solchen Prüfung hervor.«
Amen, ergänzte sie im Stillen und fügte ein rasches, heimliches Gebet hinzu, das zu ihrem ständigen Begleiter geworden war.
Von der anderen Seite des Raums steuerte ein Onkel aus der Familie des Bräutigams mit einem Jungen auf sie zu, er war groß für sein Alter, blond und blauäugig: ein typischer Pinkerton.
»Nancy. Das ist Jack, unser Jüngster. Ich habe ihn mitgebracht, damit er Joey ein bisschen Gesellschaft leistet.«
Die beiden Jungen sahen einander an, Joey nachdenklich, mit schief gelegtem Kopf, Jack ohne das geringste Interesse. Mit seinen sieben Jahren war er dem Kleinkind weit voraus. Er befreite seine Hand aus dem Griff des Vaters und drängte sich zwischen den Erwachsenen durch, bis er schließlich vor Ben, seinem erwachsenen Vetter, stand. Er betrachtete die Marineuniform.
»Wie groß ist dein Schiff?«
»Ziemlich groß.«
»Steuerst du es selbst?«
»Nicht so ganz, Jack. Aber ich helfe dabei.«
»Hast du deine Uniform immer an?«
»Klar. Sonst wissen die Leute ja nicht, wer wir sind.«
»Wenn ich groß bin, gehe ich auch zur Marine und fahre übers Meer.«
»Ja, warum nicht? Das weite blaue Meer. Nichts außer dem Himmel um dich herum. Besser, als jeden Tag ins Büro zu gehen. Willkommen an Bord, Jack!«
Lächelnd schüttelte er dem Jungen die Hand, ihm war nicht bewusst, dass er ihn praktisch in die Pflicht nahm.
Bens Eltern blieben der Hochzeit fern. Während Louis und Mary in dem Jungen einen unverhofften Enkel sahen, betrachteten ihn die Pinkertons lediglich als einen fremdländischen Sprössling. Als sie Joey zum ersten und einzigen Mal begegnet waren, hatten sie an ihm nach Zeichen seiner Andersartigkeit gesucht. Na gut, er hatte die Gesichts- und Haarfarbe der Pinkertons, aber war da nicht etwas mit den Augen des Jungen? Waren sie nicht irgendwie anders? Irgendwie … komisch? Ihnen fiel auf, wie höflich er war, wie anmutig er sich bewegte: Es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, im Schneidersitz auf dem Boden zu sitzen. Sie versicherten sich gegenseitig, das alles seien Hinweise auf sein japanisches Blut. Ohne viel Aufhebens traten sie den Rückzug an. Abgesehen davon zogen Ben und
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