Madame Butterflys Schatten
dem Gesetz. Es wird eine Hochzeitsfeier geben, so wie es Brauch ist.«
Was für Gebräuche sonst? Es versetzte Sharpless einen Stich, als er an Cho-Chos Hochzeit dachte: dieses unwürdige Ereignis, Pinkerton, der ungeduldig seinen Bourbon hinunterstürzte: Zum Wohl! Sagen Sie ihr, die Amerikaner machen das so!
Er hörte zu, während Nancy weitersprach, ihre helle Stimme füllte den Raum mit Worten, die für sich genommen harmlos waren, in ihrer Wirkung jedoch tödlich sein konnten; sie legte die Route und die Teilnehmer einer Reise fest: ein Vater, ein Kind, und ein Ziel – Amerika.
Cho-Cho beugte sich nach unten und flüsterte dem Jungen etwas zu. Er sah die Besucher an und ging hinaus. Gleich darauf hörten sie das erschrockene Gackern eines Huhns und jungenhaftes Gekicher.
Seine Mutter sah die blonde Frau ungläubig an.
»Ich soll Ihnen meinen Sohn geben?«
»Es ist zu seinem Besten.«
Sharpless lauschte auf die Stimme seiner Nichte: einstudierte Worte, hohl, Sätze aus irgendeinem pädagogischen Lehrbuch.
»In Amerika erwartet ihn ein besseres Leben. Eine vernünftige Schulbildung. Möglichkeiten. Was können Sie ihm hier denn schon bieten?«
Einen Moment sah er seine Umgebung mit Nancys Augen: ein karger, nüchterner Raum, ein Bau aus Holz und Papier, auf dem Boden Reisstrohmatten, keine Möbel, kein bisschen behaglich. Das Geld offensichtlich knapp.
»Bei uns bekommt er ein eigenes Zimmer in einem hübschen Haus, er kann eine gute Schule besuchen, aufs College gehen, einen Beruf ergreifen, glücklich werden. Ich werde ihm eine gute Mutter sein …«
Cho-Chos nach außen hin zur Schau getragene Gelassenheit begann zu bröckeln, schroff sagte sie: »Sie werden nicht seine Mutter sein. Ich bin seine Mutter.«
Nancy nickte, dem konnte sie nichts entgegensetzen.
»Aber er wäre bei seinem Vater. Wollen Sie ihm das vorenthalten? Wollen Sie einen Vater dazu verurteilen, dass er sein Kind niemals sieht?«
Cho-Cho könnte jetzt mit gutem Recht einwenden, dass Pinkerton seinen Sohn bis gestern tatsächlich noch nie gesehen hatte, dachte Sharpless, dass man ihm kaum gewaltsam ein Kind vorenthalten konnte, dem er gerade zum ersten Mal begegnet war. Sie könnte vernünftigerweise hinzufügen, dass er eine Zukunft mit seiner japanischen Ehefrau planen sollte, der leiblichen Mutter seines Kindes, sie drei waren bereits eine Familie.
Cho-Cho schwieg. Dann legte sie ein wenig den Kopf schief, als lausche sie auf ein schwaches Geräusch. Kaum hörbar flüsterte sie: »Bitte. Gehen Sie jetzt.«
Nancy hatte die Finger ineinander verschränkt, als würde sie beten.
»Ich bitte Sie«, wisperte sie. Cho-Cho hatte sich abgewandt, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr.
Nancy beobachtete sie und wartete.
Hier war Feilschen angesagt. Durfte sie es wagen, ihr Geld anzubieten? Später vielleicht. Es musste sich eine Möglichkeit finden lassen, irgendeine Schwäche, die sie sich zunutze machen konnte. Ihre Gedanken rasten.
Sie drehte sich zur Tür. »Wir kommen morgen wieder. Ben möchte seinen Sohn sehen.«
Hinterher versuchte Sharpless, das Erreichte vom Möglichen zu trennen, das Gesehene vom Gehörten, aber es machte seine Verwirrung nur noch größer. Nancy hatte sich verändert, sie war nicht mehr das unbeschwerte Mädchen von früher. Und als sie am darauffolgenden Tag sein Büro betrat, erkannte er, dass er von der Position des Ratgebers auf die des Zuschauers verwiesen worden war.
Sie sah mitgenommen aus, das Gesicht eingefallen. Auf dem Arm hielt sie das Kind, sein Gesicht war tränenverschmiert. Sie erklärte, sie sei gekommen, um sich zu verabschieden.
Sie klang gehetzt. »Wir müssen uns beeilen.«
»Wir?«, sagte er beunruhigt.
»Ich nehme Joey mit.«
»Ist Cho-Cho denn damit einverstanden?«, fragte er ungläubig. Sie nickte knapp und wandte sich zum Gehen. »Wir haben nicht mehr viel Zeit, das Schiff legt bald ab.«
In diesem Moment bemerkte er auf ihrem Kleid einen dunkelroten Fleck an der Stelle, an der Joeys Ärmel es berührt hatte, ein Ärmel, dessen Saum blutgetränkt war.
TEIL ZWEI
Kapitel 10
NANCY ENTSTAMMTE EINEM strenggläubigen Elternhaus: Man hatte sie dazu erzogen, ihren Eltern zu gehorchen, Gott zu fürchten und stets das Richtige zu tun. Es war sicher richtig gewesen, Bens Sohn aus den Händen einer unmoralischen Frau und aus einem fremden Land zu retten, ihn mit seinem Vater zusammenzuführen und ihm ein gutes Zuhause zu bieten.
Um dieses Ziel zu erreichen, war sie sogar zu
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