Madame Butterflys Schatten
Erde graben.
Doch neben all dem, den Tieren, den Vögeln, dem Klang des Tempelgongs, dem kamishibai -Mann mit seinem Fahrrad, der Süßigkeiten verteilte und Geschichten erzählte von Drachen und Prinzen und jenen bösen Geistern, die Kinder von ihren Eltern fortlockten, kreisten Joeys Gedanken unablässig um das eine, das nie, niemals ausgesprochen wurde. Er hielt seine Erinnerungen fest, umklammerte sie, betrachtete sie aus der Nähe, presste sie zusammen, und in der Mitte war ein schwarzer Fleck, ein Loch, eine Lücke, eine Leere an der Stelle, wo früher Trost und Liebe und Zärtlichkeit gewesen waren. Er konnte diese Leere zeichnen, ihre Form: ein Kimono, glatte Haare, die Biegung des Halses, aber diese Zeichnungen verbarg er in einer Schachtel in seinem Schrank. Manchmal holte er sie hervor und hielt eine davon an sein Gesicht, versuchte, ihr etwas einzuhauchen, einen Hauch von Leben, doch dann drängte sich ein Geräusch dazwischen – Schreie –, und er ließ die Zeichnung fallen und hielt sich die Ohren zu, um es nicht mehr hören zu müssen, aber es befand sich natürlich im Inneren seines Kopfes.
Jetzt versuchte er sich daran zu erinnern, wie man ihn vor langer Zeit, in dieser Schattenzeit, auf ein großes Schiff gebracht und ihm gesagt hatte, er werde in ein Land namens Amerika fahren, um dort seinen Vater zu besuchen. Er meinte sich zu erinnern, dass er geweint hatte, aber die Erinnerung wurde immer schwächer – hatte er geweint?
Er erinnerte sich, dass man ihn herumgezerrt hatte, um ihm ständig etwas Neues zu zeigen …
»Ist das nicht schön? Was für ein Spaß!«
Immer wieder hatte Nancy behauptet, dass ihm Amerika gefallen werde, dass das Leben in Amerika Spaß mache, großartig sei. Dort gab es alles, was man sich nur wünschen konnte. Aber als er dann nach Amerika gekommen war – sieh mal, Joey, Eis, sieh mal, Kekse und Rollschuh e –, hatte es etwas nicht gegeben, nämlich seine Mutter. Sein Vater war gekommen, und bald darauf wohnten sie in einem Haus mit zwei Stockwerken und einem Sofa und einem Garten. Doch als er fragte, wann er wieder zurück nach Hause dürfe, erklärten sie ihm, das hier sei jetzt sein Zuhause, seine Mutter sei tot. Sein Vater trug keine weiße Uniform mehr, und sie sahen sich im Kino Filme mit Charlie Chaplin an, aber niemand wollte mit ihm über eine Stadt namens Nagasaki sprechen und über die Frau, die mit ihm am Strand spazieren gegangen war.
Er hätte ihnen niemals ihren Namen sagen dürfen.
Es war das erste Mal, dass ein Schulfreund bei ihm übernachtet hatte. Nancy stellte für Frank ein Klappbett auf, und sie lagen Ben so lange in den Ohren, bis er ihnen für den Erdkundeunterricht zeigte, wie man auf einer Seekarte Tiefe und Entfernung berechnete. Frank war ziemlich beeindruckt von Joeys Vater und seiner Eisenbahn und dem Orden von Charlie, Bens älterem Bruder, der aus dem Krieg nicht mehr nach Hause gekommen war. Sie durften länger aufbleiben und sich eine Sendung in dem neuen Radio anhören.
Später sah sich Frank in Joeys Zimmer dessen Spielsachen an, und er griff nach dem rot-gelben Holzkreisel – von der Farbe war inzwischen kaum noch etwas übrig – und fragte Joey, warum er dieses schäbige alte Ding aufhob.
»Das ist aus Japan«, sagte Joey.
»Was ist das denn?«
»Ein Land. Auf der anderen Seite des Ozeans.«
»Und? Hat ihn dir dein Vater von dort mitgebracht?«
»Nein, ich war mit ihm dort.«
»Du bist nach Japan gefahren?«
»Ich war schon dort. Meine Mom hat da gewohnt.« Er merkte, dass Frank ihm nicht mehr folgen konnte, und fügte als Erklärung hinzu: »Nancy ist nicht meine richtige Mom, sie hat mich aus Nagasaki hierhergebracht – aus Japan.«
Aus Franks Familie hatte noch nie jemand die Grenzen Oregons hinter sich gelassen, geschweige denn die der Vereinigten Staaten; die Vorstellung, dass es auf der anderen Seite des Ozeans ein fremdes Land und eine zweite Mutter gab, überstieg seinen Verstand.
»Okay«, sagte er. »Dieser Kreisel ist also aus …«
»Japan.«
»Von dort. Aha.« Pause. »Und wo ist deine richtige Mom jetzt?«
»Sie ist gestorben«, antwortete Joey. Das hatten sie ihm gesagt. Plötzlich fühlte er sich unwohl. »Ich glaube, ich will jetzt lieber schlafen.«
Am nächsten Tag standen Frank und ein paar seiner Klassenkameraden in einer Ecke des Pausenhofs und tuschelten miteinander. Joey merkte, dass sie immer wieder in seine Richtung sahen, während er einen Ball über den Hof kickte. Schließlich
Weitere Kostenlose Bücher