Madame Butterflys Schatten
ihrem Kern vor. Sie verstand jetzt, wie das alles hatte geschehen können. So wie sie die Sache sah, war ein einsamer, leichtgläubiger Mann, gestrandet in einem Hafen fern der Heimat, auf eine raffinierte Frau von zweifelhaftem Ruf hereingefallen, die es geschafft hatte, sein Mitleid zu erregen. Auf Freundlichkeit war etwas weniger Ehrenhaftes gefolgt – Nancy verschloss keineswegs die Augen vor der Realität –, und ein unschuldiger Mann saß in einem Gespinst aus List und Täuschung gefangen. Die Formulierung gefiel ihr, und sie wiederholte sie im Stillen: ein Gespinst aus List und Täuschung. Von Missionaren, die aus dem Ausland nach Hause zurückkehrten, hatte sie ähnliche Geschichten gehört. Frauen dieses Schlags waren einzig und allein darauf aus, sich einen amerikanischen Ehemann zu angeln. Und wie ließ sich ein Mann besser in die Falle locken als mit einem Kind?
Kapitel 9
ALS NANCY FRÜH am nächsten Morgen auf dem Konsulat erschien, trug sie ein schlichtes dunkles Kleid und einen schwarzen Hut mit Schleier. Ihr Gesicht war ungeschminkt. Als wäre sie auf dem Weg zu einer Beerdigung, dachte Sharpless. Sie kam in sein Büro und bat ihn, sie zum Haus »dieser Person« zu bringen.
»Leutnant Pinkerton ist noch nicht da.«
»Ben kommt später nach. Ich möchte allein mit ihr sprechen. Mit deiner Hilfe, Onkel.«
Sharpless war beunruhigt: Er äußerte Bedenken, versuchte sie davon abzubringen, sagte, eine solche Unterredung widerspreche nicht nur den guten Sitten, sondern sei auch peinlich, ja schmerzhaft. Zehn Minuten später waren sie unterwegs. Sharpless musste erkennen, dass Nancy genauso dickköpfig war wie ihre Mutter und zudem die Stärke der Jugend auf ihrer Seite hatte.
Mit gesenktem Blick saß sie neben ihm in der Rikscha und holte immer wieder tief Luft wie jemand, der sich auf einen Kampf vorbereitete. In einiger Entfernung vom Haus hielt der Rikschafahrer an, weil das letzte Stück des Wegs zu steil zum Weiterfahren war.
Als sie sich dem Haus zu Fuß näherten, sah Sharpless Cho-Cho vom Fenster wegtreten. Die shoji -Tür glitt auf, und sie stand mit unbewegter Miene wartend da. Sharpless bemerkte jedoch, dass sie die blonde Ausländerin, die auf sie zutrat, mit einem katzenhaften Blick musterte.
» Oha y ō gozaimasu , Cho-Cho-san!«, rief er.
Sie machte eine winzige, kaum wahrnehmbare Verbeugung. Dann forderte sie sie mit einer Geste auf einzutreten, und Sharpless stellte die beiden Frauen etwas verkrampft einander vor.
Im Haus zog Sharpless automatisch die Schuhe aus. Nancy bekam davon nichts mit, weil sie unverwandt Cho-Cho ansah, und Sharpless beschloss, die Form ausnahmsweise außer Acht zu lassen.
Verlegen standen sie alle drei neben der Tür, wie Modelle, die auf einen Maler oder einen Bildhauer warteten, der sie zu einer harmonischen, stimmigen Gruppe arrangieren würde. Dann kam das Kind angelaufen und vergrub das Gesicht im dunklen Kimono seiner Mutter.
Nancy blickte auf den kleinen Jungen hinunter, betrachtete seinen Hinterkopf, die blonden Pinkerton’schen Locken, den schmalen Hals, die blassen Beine. Er trug dünne, ausgeblichene Baumwollsachen. Sie schwankte leicht. Sharpless befürchtete schon, sie werde in Ohnmacht fallen, doch dann richtete sie sich kerzengerade auf und sagte mit unerwartet fester Stimme: »Würdest du ihr bitte sagen, dass ich gekommen bin, um über …«
»Sie können englisch mit mir sprechen«, fiel Cho-Cho ihr lapidar ins Wort. »Ich verstehe Sie.«
Mit einer direkten Konfrontation hatte Nancy nicht gerechnet, ihr Plan hatte vorgesehen, dass ein wohlwollender Übersetzer, jemand, dem sie vertrauen konnte, zwischen ihnen vermittelte. Plötzlich war sie auf sich gestellt. Sharpless hatte sich zurückgezogen, sein Blick war nach innen gerichtet, auch wenn es den Eindruck machte, als blicke er aus dem Fenster auf das stahlblaue Meer.
Sie gab sich einen Ruck. »Ich will offen mit Ihnen sein. Ich bin nicht in böser Absicht gekommen. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann haben Sie irgendwann in der Vergangenheit gewisse … Arrangements mit Leutnant Pinkerton getroffen …«
»Er ist mein Ehemann.«
»Nun ja. Vielleicht gab es da das eine oder andere Missverständnis. Ich bin seine Verlobte. Vielleicht sagt Ihnen dieses Wort nichts.«
»Ich kenne es. Es bedeutet« – ein leiser verächtlicher Unterton –, »dass Sie darauf hoffen, irgendwann seine Ehefrau zu werden.«
»Unsere Ehe wird vor dem Angesicht Gottes geschlossen werden. Und vor
Weitere Kostenlose Bücher