Madame Butterflys Schatten
Nancy ja ohnehin in eine andere Stadt.
Ein neues Zuhause in einer neuen Stadt bedeutete auch neue Freunde. Doch obwohl die Nachbarn sie freundlich aufnahmen, fühlte Nancy sich einsam. Hier ging jeder ganz selbstverständlich davon aus, dass Joey ihr Sohn war. Hin und wieder geschah es, dass man ihr heikle Fragen stellte, aber sie entwickelte Übung darin, den kurzen Moment des Zögerns zu überspielen, die Sekunde, in der sie nach der »richtigen« Antwort suchte. Das Leben war nicht mehr einfach.
Das musste sie wieder einmal eines Morgens beim Frühstück erkennen. Während sie Ben Kaffee einschenkte, fragte sie ihn, wann er die nächste Fahrt antreten müsse.
Er goss großzügig Ahornsirup über eine Waffel. »Tja«, sagte er, »in Zukunft wirst du wohl mehr von mir haben, Nance.«
Eine Weile konzentrierte er sich darauf, zu kauen und hinunterzuschlucken. Er nahm seine Kaffeetasse, betrachtete sie einen Augenblick tiefsinnig und stellte sie wieder zurück.
»Es ist nämlich so –«
Er musste sich anstrengen, dass es nicht wie eine einstudierte Rede klang: Ihm sei klar geworden, wie schwierig es für sie sein musste, unter den gegebenen Umständen allein zu sein. Es sei an der Zeit für eine Veränderung, jetzt mit dem Kind …
Das Kind. Das Problem. Die Bürde. Wenn er Nancy dabei zusah, wie sie Joeys Sachen wusch, seine Spielsachen aufräumte, etwas Besonderes für ihn kochte, wurde er von Schuldgefühlen schier erdrückt. Sie saß hier und hatte das Kind am Hals. Sein Kind. Irgendwann würden sie natürlich auch eigene Kinder haben, aber zum richtigen Zeitpunkt, nicht jetzt. Durch das Kind hatte sich alles geändert, doch das sagte er Nancy nicht.
Stattdessen sagte er: »Ich habe mir eine Werkstatt mit einem Verkaufsraum angesehen.«
»Können wir uns das denn leisten?«
»Ich bekomme einen Kredit von der Bank. Wie heißt es so schön: Das Automobil ist die Zukunft Amerikas.« Ein unsicheres Lachen.
»Das ist ja großartig, Ben.«
Sie bemühte sich, Begeisterung in ihre Stimme zu legen, stattdessen klang sie jedoch atemlos, irgendwie falsch. Weil sie daran denken musste, wie Ben immer von der Marine gesprochen hatte, von der Freiheit, dem endlosen Horizont, dem Augenblick, wenn in der Ferne ein verschwommener Fleck Land auftauchte, davon, wie nachts Meer und Himmel eins wurden, die Dunkelheit das Wasser in Tinte zu verwandeln schien. Es hatte sie gerührt, und sie hatte sich nicht zuletzt deshalb in ihn verliebt. Jetzt schien er das alles einfach aufzugeben.
»Bist du dir sicher?«
»Klar bin ich mir sicher!« Voller Überzeugung.
Na gut. Was hatte der Pfarrer vor ein paar Wochen gesagt? Ein Problem ist nur eine andere Bezeichnung für eine Gelegenheit.
»Es ist die Gelegenheit!«, sagte Ben.
Sie war sich bewusst, dass der Horizont für sie beide enger geworden war. Sie musste ihren Beruf als Lehrerin an den Nagel hängen: Sie konnte Joey wohl kaum der Obhut Fremder anvertrauen, er war schließlich etwas Besonderes. Anders. Wenn er hinter einem Ball herrannte, unterschied er sich auf den ersten Blick nicht von Gleichaltrigen. Und doch war er nicht wie sie: Er war älter als seine fünf Jahre, er betrachtete Dinge nachdenklich und mit konzentrierter Aufmerksamkeit, als suche er etwas. Eines Tages blieb er auf einem Spaziergang durch den Park neben einem blühenden Strauch stehen. Er strahlte vor Freude und stupste eine der blassen Blüten mit dem Finger an.
» Ajisai -Blumen!«, rief er.
»Nein, Joey«, verbesserte ihn Nancy. »Das sind Hortensien.«
Dann begriff sie, dass diese Blumen vermutlich genau das waren, was er gesagt hatte, nur an einem anderen Ort, in einer anderen Sprache, einem anderen Leben.
»Lass uns weitergehen!«, sagte sie munter. »Wir wollen doch nicht zu spät nach Hause kommen.«
Doch als sie zurückblickte, stand er immer noch neben dem Hortensienstrauch und umschloss mit seiner kleinen Hand eine der Blüten. Er sah sie fragend an.
»Wann darf ich meine Mutter besuchen?«
Sie starrte das Kind an, und ihr Kopf war auf einmal völlig leer, ihr fiel nichts mehr ein, keine Entschuldigungen, keine Ausflüchte, nichts.
»Komm jetzt, Joey. Wir sprechen später darüber.«
Sie nahm seine Hand.
Sie war Mutter, Gattin und Hausfrau, und sie tat ihr Bestes, sorgte dafür, dass das Haus immer blitzblank war, ihre Haare ordentlich frisiert und glänzend, und sie begrüßte Ben jeden Abend mit einem Kuss, wenn er von der Arbeit heimkam.
Auch jetzt tat sie ihr Bestes, griff
Weitere Kostenlose Bücher