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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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Vanille eingeatmet. Er starrte zu dem sich drehenden Karussell hinauf, aber sein Vater erklärte, das sei reine Verschwendung, und führte ihn zu dem Panorama über den Bürgerkrieg. Danach gingen sie nach Hause.
    Sie nahmen ihn an der Hand, um ihn sicher über die Straße zu bringen. Umarmungen gab es nicht. Dann fiel Charlie, und er merkte, wie sich eine gläserne Wand zwischen ihn und seine Eltern schob: Sie konnten einander sehen, sich aber nicht berühren.
    Später, als er mit Joey auftauchte, hatten sie ihn praktisch verstoßen.
    Es gab Zeiten in seinem Leben, da sehnte er sich nach etwas anderem: nach Extremen. Nach dem Meer. Nach eisiger Kälte, reißenden Winden, sintflutartigen Regenfällen. Wildheit. Manchmal bekam er kaum Luft in dem Haus mit dem Gartenzaun davor, es war alles so eng, am liebsten hätte er auf etwas eingeschlagen, ohne zu wissen, worauf und warum. Dann kam es vor, dass er Nancy anfuhr. Mittlerweile fragte er sich, ob er und Nancy so wurden wie seine Eltern.
    Als hätte sie seine Gedanken gelesen, stand sie auf und rief: »Joey? Wie wär’s mit einem Eis? Ich mach’ dir ein Vanilleeis mit Schokoladensoße, hört sich das gut an?«
    Irgendwann in den frühen Morgenstunden, nachdem er schon zu lange wach gelegen war, ging Ben manchmal durchs Haus, von Zimmer zu Zimmer, als wolle er nach dem Rechten sehen wie ein Wächter auf seinem Rundgang: Türen zugesperrt, Fenster verriegelt. Alles sicher. Aber wie hieß es in der Bibel: Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo sie weder Motten noch Rost fressen und wo die Diebe nicht nachgraben. Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.
    Auch in dieser drückend heißen Nacht stand er leise auf, um Nancy nicht zu wecken. Sie lag wie immer auf der rechten Seite, ein Knie angezogen, die Finger der linken Hand leicht gegen die Wange gepresst.
    Zuvor hatten sie sich eine Zeit lang darin geübt, eine kleine Schwester oder einen kleinen Bruder für Joey zu produzieren. Gute Arbeit, wie Ben meinte, und er war dankbar für den weichen, willigen Körper unter ihm. Aber danach hatten sie sich still voneinander gelöst und waren jeder auf seine Seite gerutscht, auf ein kühles, glattes Stück Laken.
    Er trat ans Fenster und starrte auf die dunkle Straße hinunter. Man spürte die anderen Straßen, die parallel liefen, sich kreuzten, immer weiter aus der Stadt führten, bis irgendwann Asphalt und Häuser aufhörten und stattdessen Felder kamen, Landstraßen, die sich über die Ebene zogen. Um ihn herum nur Oregon, auf drei Seiten Land, das hinter Grenzen und Bergen von noch mehr Land abgelöst wurde, und dann eine weitere Grenze, die die Form von Klippen und Sanddünen und einem Meeresufer annahm, der gekräuselte Rand eines Ozeans, bis zum Horizont reichend, hinter dem der Rest der Welt begann.
    Früher waren sie immer picknicken gegangen, Familientreffen am Strand. Nancy hatte in ihrem knallrosa Badeanzug auf dem Rücken gelegen, die Augen geschlossen, das Gesicht zur Sonne gewandt, während er über den Sand in die Brandung lief, die zwischen seinen Zehen schäumte, mit winzigen Mündern an seiner Haut saugte, darauf wartete, ihn zu verschlucken.
    Er erinnerte sich genau daran: wie er sich in die Fluten stürzte, das kalte Kribbeln, wenn das Wasser über ihn hinwegspülte, das Salz, das sich an den feinen Härchen auf seiner Haut festsetzte. Er schwamm hinaus, ein kraftvolles Kraulen, die Arme abwechselnd abgewinkelt, als winke er, um einen weit zurückgefallenen Schwimmer zu verhöhnen; dabei drehte er regelmäßig den Kopf zum Luftholen, hoch, wieder runter, das Wasser wie der Kiel eines Bootes durchschneidend …
    In Nagasaki war er im kalten grünen Meer geschwommen, eine kleine Gestalt in einem blau-weißen Kimono hatte ihm von den Felsen aus dabei zugesehen und gewinkt, sobald er sich umwandte; die Sonne hatte auf ihrem Silberarmband gefunkelt.
    Wenn er auf dem Hin- und Rückweg an den winzigen Buden am Ende des Marktes vorbeigekommen war, hatten ihm die Händler jedes Mal kunstvolle Schildpattarbeiten und ausgefallene Schmuckstücke angeboten. In einer Bude hatte er ein Armband entdeckt, das ineinander verschlungene silberne und goldene Schmetterlinge mit Emaille-Einlagen in leuchtenden Farben zierten. Er hatte es gekauft; mittlerweile wusste er, dass Cho-Cho so viel wie Schmetterling hieß.
    Als er das Haus erreichte, hatte er das Armband aus seiner Tasche gezogen und es ihr zugeworfen: »Hier,

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