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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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rief Frank nach ihm.
    »Du hast mir doch gestern erzählt, dass deine Mom tot ist und so …«
    Er hätte einfach sagen können, dass er nicht darüber reden wolle. Doch ein Mädchen meinte, das sei traurig, und auf einmal war er sich nicht mehr sicher, ob er es nicht doch wollte. Und dann sagte eines der anderen Kinder, wenn seine richtige Mutter aus einem fremden Land komme …
    »Japan«, sagte Joey.
    … wie hieß sie denn dann?
    Also sagte er es ihnen.
    »Butterfly? Wie Schmetterling? Was ist das denn für ein Name? Kein Mensch hat eine Mutter, die Schmetterling heißt.«
    Im Bruchteil einer Sekunde war alles anders: Sie starrten ihn an, Langeweile schlug in Interesse um, an die Stelle von Gleichgültigkeit trat Neugier.
    Er hatte oft davon geträumt, die Aufmerksamkeit seiner Schulkameraden auf sich zu ziehen, einmal im Mittelpunkt zu stehen. Jetzt war es geschehen, und er wünschte, er wäre woanders. Er hätte einfach sagen können, seine Mutter sei tot, er hätte den Waisenjungen spielen können. Aber nun war es zu spät.
    Vielleicht wären sie nicht so überrascht gewesen, wenn er irgendwie fremdländisch ausgesehen hätte, wenn es sichtbare Zeichen seines Andersseins gegeben hätte, aber so stand er vor ihnen mit blauen Augen und blonden Haaren. Amerikanisch. Sie gafften ihn an.
    Dann drängten sie sich um ihn, wollten mehr über seine Mutter wissen, über diese Frau mit dem seltsamen Namen, aber was sollte er ihnen erzählen? Sie war ein Mädchen gewesen. Und dann hatte sie seinen Dad geheiratet.
    Und dann?
    Die Pausenglocke läutete und rettete ihn.
    Sie hat meinen Dad geheiratet. Und dann?
    Er hätte ihnen erzählen können, dass sie Cho-Cho hieß, aber irgendetwas sagte ihm, die Kinder würden darauf antworten, das sei noch nicht einmal ein richtiges Wort und ein Name schon gar nicht. Er wusste, dass die Familie des einen oder anderen aus einem weit entfernten Land kam – Deutschland, Schweden –, ein Junge namens John stammte aus Frankreich, anfangs hatte er sich Jean genannt, aber zumindest klang Jean nicht komisch, wenn der Lehrer die Namen aufrief, es gab schließlich Amerikaner, die Gene hießen. Deshalb hatte Joey Cho-Cho mit Butterfly, Schmetterling, übersetzt. Aber kein Mensch hatte eine Mutter, die Schmetterling hieß.
    Jetzt hielt er sich die Ohren zu, aber über das Dröhnen in seinem Kopf hinweg konnte er Nancy von unten rufen hören: »Joey! Komm runter. Ich habe deinen Lieblingskuchen gebacken – Maismehlkuchen.«
    Er war neun und hatte Maismehlkuchen noch nie gemocht.

Kapitel 12
    DAS GESCHÄFT LIEF ganz gut. Nancys Vater fragte Ben von Zeit zu Zeit, wie es laufe, und er antwortete jedes Mal: »Bei mir läuft’s ganz gut, Louis.«
    Er fand, das war eine präzise und zutreffende Einschätzung der Lage: Er zahlte pünktlich die Raten für das Haus, und sein Kundenstamm wurde langsam, aber sicher immer größer. Dem Automobil gehörte die Zukunft, und das bedeutete, dass seine Zukunft und die von Nancy und dem Jungen gesichert war. Es lief gut bei ihnen, sie sollten zufrieden sein. Er wünschte sich, sie würde mehr lächeln; früher hatte er sie leicht zum Lächeln oder zum Lachen bringen können, wobei sie ihre Nase auf eine Weise krauszog, die ihn fast ein wenig erregte. Aber das Leben hinterlässt seine Spuren, und irgendwann fällt das Lachen nicht mehr so leicht. Genau wie das Reden.
    »Vielleicht sollten wir allmählich mal an ein Kind denken«, sagte er eines Tages.
    Sie saßen schläfrig auf der Veranda, zu ihren Füßen hockte Joey und zeichnete Schmetterlinge und dicke Bienen, die die Heidelbeerbüsche anflogen.
    »Ein kleiner Bruder wäre doch schön. Oder eine Schwester. Für Joey.«
    »Warum nicht?«, sagte Nancy nach einer Weile.
    Er spürte eine gewisse Spannung. »Wir werden dran arbeiten«, sagte er und lachte gezwungen.
    Seine Eltern hatten nie viel gelacht. Sie hatten leidenschaftslos nebeneinanderher gelebt. Um ihre Kinder hatten sich Joe und Martha Pinkerton pflichtbewusst gekümmert und gewissenhaft für die Erfüllung ihrer materiellen Bedürfnisse gesorgt, aber sie waren nie aus ihrem Trott ausgebrochen. Als Kind hatte Ben ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er so von ihnen dachte, aber die beiden nahmen in seinem Herzen nun einmal keinen besonderen Platz ein.
    Einmal, es war fast ein Menschenalter her, hatten sie ihn zum Jahrmarkt mitgenommen. Wie benommen vor Glück hatte er sich von der Menge und der Musik treiben lassen und den Geruch von Zucker und

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