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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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sagen.
    »Liegt wahrscheinlich in der Familie.«
    Er wollte noch mehr sagen, wollte ihr erzählen, dass er dank Ben schon früh gewusst hatte, was er mit seinem Leben anstellen wollte, nämlich zur Marine gehen, und sobald er alt genug war, würde er das auch tun. Und am liebsten hätte er noch hinzugefügt, wenn Ben bei der Marine geblieben wäre, dann würde er jetzt nicht in diesem Sarg liegen, er wäre am Leben, auf See, in seiner weißen Uniform. Aber selbst mit seinen vierzehn Jahren wusste er, dass man so etwas nicht zu einer Witwe sagte, daher bekundete er nur noch sein Beileid und ging weg.
    Daniels von der Bank erschien nicht, er sei auf Geschäftsreise, wie er in seinem Kondolenzbrief schrieb. Auch andere fehlten, die Bessergestellten, denen die ganze Protestiererei nicht behagte. Aber die Veteranen waren anders: Sie sprachen von dem Toten mit der Zuneigung von Kameraden.
    »Immerfort hat er irgendwas in sein kleines Notizheft gekritzelt, wir haben gedacht, er schreibt vielleicht Gedichte. Das hätte gut zu ihm gepasst.«
    Ben ? Nancy meinte, sie hätte sich verhört. Gedichte ?
    Joey erinnerte sich, dass sein Vater einmal etwas rezitiert hatte, das durchaus ein Gedicht hätte gewesen sein können, etwas von einem Springfrosch … er sagte, ein Frosch brauche nur die richtige Ausbildung, dann bringe er fast alles fertig .
    Joey, von jeher ein stilles Kind, hatte praktisch kein Wort mehr gesagt, seit ihnen die Nachricht überbracht worden war. Jetzt war also auch sein Vater tot.
    Joey fiel es schwer, sich vorzustellen, dass er nicht mehr da war. Irgendwo in ihm saß ein eigentümlich dumpfes Gefühl, von dem er nicht genau wusste, wo, ungefähr so, wie wenn er versuchte, die Stelle zu finden, an der es juckte. Seine Nase kribbelte, und der Hals tat ihm weh.
    Er drückte sich auf der harten Bank enger an Nancy, aber dadurch wurde die Lücke auf der anderen Seite, wo sein Vater hätte sein sollen, nur noch größer. Die Bank fühlte sich abschüssig an und kalt, so wie wenn einem nachts im Bett die Decke wegrutschte. Wenn Ben von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte er nach dem Laster gerochen, ein starker, öliger Geruch, und manchmal auch nach den Sachen von den Farmen, die er transportiert hatte, aber wenn er lachte, erinnerte sein Atem Joey an die grünen Bohnen mit Minze, die Nancy manchmal zum Abendessen kochte, und wenn er daran dachte, Joey gute Nacht zu sagen, und den Kopf durch den Vorhang in sein Kämmerchen steckte, dann hinterließ er etwas von diesem Minzgeruch.
    Nach dem Gottesdienst gingen sie in den Gemeindesaal, und die heruntergekommenen Fremden standen verlegen herum. Nancy ging durch den Saal und schüttelte jedem Einzelnen die Hand, dankte allen für ihr Kommen.
    Ein oder zwei von ihnen hatten ihr von der Nacht, in der Ben gestorben war, erzählt, und jetzt sah sie es durch ihre Augen, entnahm es ihren verbitterten Worten. Dann fragte sie nach einer anderen unbekannten Seite von Ben, von der sie gerade zum ersten Mal gehört hatte. »Er hat Gedichte gemocht?«
    »Ja, klar. Da war so ein Kerl, Gary hieß er, der war mal Schauspieler gewesen, und manchmal deklamierte er irgendwas, wenn er auf Posten stand. Prima Stimme. Einmal gingen wir alle drei an einem Haus in der Stadt vorbei, und Gary deklamierte wieder mal was, und da kam eine Frau raus und hat uns in ihre Küche geholt. Sie sagte, sie würde so gern die Sprache der Dichter hören. Sie schenkte uns Kaffee ein, und Gary saß am Tisch – da lag eine von diesen hübschen glänzenden Decken mit Obst und Blumen drauf –, und er breitete seine Hände aus und zitierte Shakespeare. Sie war begeistert und gab ihm einen Keks, und dann zitierte er Walt Whitman, und seine Stimme wurde immer lauter dabei, und als er bei ›Ich singe den Leib, den elektrischen‹ ankam, da war er wirklich ziemlich laut. Die Frau stand auf und sagte, sie müsse jetzt los, und sie öffnete die Tür, da sind wir gegangen. Gary verstand überhaupt nicht, warum Ben und ich uns auf dem Bürgersteig vor Lachen krümmten.«
    Joey sah sie vor sich, wie sie vor dem Haus der Frau standen. Seit sie ihr Heim mit der elektrischen Küche verloren hatten, hatte sein Vater nicht mehr oft gelacht, aber er erinnerte sich von früher daran, wie Ben lachend den Kopf in den Nacken warf und man seine großen Zähne sah. Joey fiel dann in sein Lachen ein, ohne zu wissen, warum: Er lachte, bis ihm die Tränen kamen. Auch jetzt brannten seine Augen, als er die Tränen wegblinzelte,

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