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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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Notizbuch mit einem glänzenden schwarzen Einband gegeben, einen Stapel frankierter Umschläge und zwei gespitzte Bleistifte.
    »Schreib mir. Selbst wenn es nur ein paar Zeilen sind. Sammle sie. Schick sie mir, wann immer es möglich ist.«
    Er versprach, sie auf dem Laufenden zu halten.
    Wir sind hier sicher um die zwanzigtausend Leute, Veteranen, Frauen, Kinder, man kommt in den Straßen kaum noch voran. Es ist geplant, die Petition zu übergeben, ihren Stimmen Gehör zu verschaffen …
    Früher einmal waren sie als Helden gefeiert worden. Jetzt lasen sie in den Zeitungen, dass der Präsident neue Namen für sie gefunden hatte: Hoover nennt uns Vagabunden, Pazifisten, Radikale. Er hat die Tore des Weißen Hauses zusperren lassen. Einige der Männer haben sich in Abrisshäusern einquartiert, wir anderen schlagen in den sogenannten Anacostia Flats auf der anderen Flussseite unser Lager auf …
    Der Boden war steinhart, ausgedörrt von der Sonne, Bens Schaufel prallte von der trockenen, schlackigen Erde ab, als wäre sie Stahl. Ein Stück weiter wurden Küchen errichtet, Kinder von den zusammengeschusterten, rauchenden und knisternden Herden verscheucht. Hütten aus Müll und Pappe und Schrottteilen wuchsen aus dem Boden und wurden vor den Augen des Präsidenten zum größten Hooverville im ganzen Land.
    Liebste Nance, ich lege eine Pause ein vom Latrinenschaufeln. Wir bauen uns ein richtiges Zuhause fern von Zu Hause hier auf. Tolle Aussicht: Eins sag’ ich dir, lieber guck’ ich von hier auf den Hügel des Kapitols, als dass ich einer von den Jungs dort bin, die auf uns schauen .
    Nancy trug die aus dem Notizbuch herausgerissenen Briefe aus Washington laut vor. Joey studierte die hingekritzelten Notizen später im Bett, las die Worte wieder und wieder. In seinem Kopf hörte er die Geräusche, mit denen die Männer das Lager aufbauten, das Graben, Hacken, Wegschleifen, das Klirren, wenn der stählerne Spaten auf die harte Erde traf, die Rufe. Es waren die Geräusche eines in der Ferne liegenden Schlachtfelds.
    Sein Vater erschien ihm in einem neuen Licht.

Kapitel 20
    BEN HATTE BEI der Formulierung einer offiziellen Stellungnahme für die Presse mitgeholfen, aber am Schluss hatte Walt sie zerrissen und war zu den wartenden Reportern hinübergegangen.
    »Gentlemen. Sehen Sie sich doch bitte diese Männer an. Die meisten sind verheiratet und haben seit zwei Jahren oder länger keine Arbeit mehr. Wenn Sie Ihnen einen Job für einen Dollar am Tag anbieten, werden sie ihn nehmen. Wir finden, sie verdienen es, angehört zu werden.«
    Die Reporter verfassten ihre Artikel, die Männer hielten ihre Spruchbänder in die Luft, und am 15. Juni schrieb Ben jubilierend an Nancy, der Gesetzentwurf zur Auszahlung des Bonus an die Veteranen sei mit Ach und Krach durch die erste Runde gekommen.
    Hoover hat ein Veto angedroht, trotzdem wird in den Straßen getanzt.
    Zwei Tage später lehnte der Senat den Gesetzentwurf ab.
    Als die Wochen ins Land zogen, nahm die Spendierfreude der Einwohner von Washington mehr und mehr ab. Im Denken der Männer rückte Essen an die Stelle von Gerechtigkeit. Das Lager stank nun nicht mehr nur nach Müll und Latrinen, es roch auch nach Hunger. Ohne zu wissen, was es war, atmete Ben den metallischen Acetatgeruch der Mangelernährung ein. Er kannte Armut – zumindest aus der Ferne: In den fremden Häfen, in denen sie angelegt hatten, war er bettelnden Einheimischen begegnet. Auch zu Hause war er sich der Obdachlosen und Arbeitslosen bewusst gewesen, sogar noch bevor ihm sein eigenes sorgloses Dasein wie Sand zwischen den Fingern zerronnen war. Jetzt war er einer von ihnen, und ihm wurde klar, dass diese Armut hier anders war als alles, was er bislang kennengelernt hatte.
    Während er schwarz verfärbte Kartoffeln zerschnitt und die verfaulten äußeren Blätter eines Kohlkopfs entfernte, den er aus dem Abfallhaufen eines Marktstandes gerettet hatte, empfand er zuerst Scham, doch dann fühlte er sich auf einmal merkwürdig privilegiert: Sie lehnten sich gegen das System auf.
    Aber mit den steigenden Temperaturen heizte sich auch die Stimmung immer weiter auf, und eines Nachts begnügten sich die Männer nicht mehr damit, vor dem Kapitol Mahnwache zu halten, sondern schlugen ihr Lager auf dessen Grund auf.
    Am nächsten Morgen verteilte ein Handlanger der Regierung eine offizielle Verlautbarung: Der Parlamentssprecher hatte eine bis dato vergessene Vorschrift hervorgekramt, die den Leuten das Herumlungern

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