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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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aber die kamen nicht vom Lachen. Er schluckte ein paarmal und zupfte an Nancys Ärmel.
    »Was ist an Walt Whitman so komisch?«, flüsterte er.
    »Nichts, ich les’ dir mal was von ihm vor.«
    Wie ein Mosaik fügten sich die Bruchstücke aneinander und vermittelten Nancy einen Eindruck von jenen Wochen in Washington, schufen ein Bild von Ben, das eine andere Seite von ihm offenbarte, einen anderen Blick auf ihn bot.
    Sie hörte, wie die Bonus-Armee schließlich geschlagen worden war, hörte von diesem schrecklichen letzten Tag. Und Joel, der sich in den Anacostia Flats eine Hütte mit Ben geteilt hatte, berichtete von der Feindseligkeit und der Verachtung, die sie durch die Regierung erfahren hatten.
    »Sie nannten uns Vagabunden, Säufer, Bolschewiken. Gaben uns jeden Schimpfnamen, der ihnen für Kommunist einfiel. Es waren schwarze Veteranen unter uns, die im 93. Regiment gedient hatten. Dass Weiße und Neger alles miteinander teilten, passte denen in Washington überhaupt nicht, und sie brachten die Bezeichnung ›degeneriert‹ auf. Wir anderen, wir sahen mittlerweile wahrscheinlich ziemlich irre aus, wie Säufer eben.« Er schüttelte den Kopf und lächelte, aber es hatte nichts Fröhliches.
    »Das sind für uns alle schlimme Zeiten«, sagte Nancy.
    Später, als sie allein war, dachte sie an Ben, der ihr Woche um Woche mit wachsender Entfernung immer näher gekommen war. Sie las noch einmal seine Briefe, diese zerknitterten, schmuddeligen Blätter, und jetzt schien in ihnen Hoffnung aufzuleuchten und die Möglichkeit eines Neuanfangs. Sie hatte sich so lange Zeit innerlich abgeschottet – um zu überleben –, aber jetzt schmolz sie wie im Tauwetter nach einer Eiszeit dahin; Empfindungen und Schmerz kehrten zurück, und sie weinte, weil alles so traurig und sinnlos war, weinte um das gewaltsam zerstörte Lager, um die müden, geschlagenen Menschen.
    Zuvor hatte Nancy wie viele andere dem Präsidenten die Schuld gegeben, weil ihm die Sache entglitten war. Er hatte die Befehle gegeben. Bei der Beerdigung hatte Joey an ihrer Seite genau zugehört, und bestimmte Worte waren ihm im Gedächtnis geblieben: Einige der Befehle waren nicht befolgt worden, andere dagegen schon. Er wusste, wer die Schuld trug: MacArthur hatte seinen Vater umgebracht.
    Joey gewöhnte sich nur schwer an die Lücke, die Ben hinterlassen hatte, immer wieder vergaß er sie. Er deckte den Tisch, bis er merkte, dass Nancy hinter ihn trat und still einen Teller, ein Messer, eine Gabel wieder wegnahm … sie brachte es nicht über sich, ihn daran zu erinnern, dass sie jetzt eins weniger von allem brauchten.
    Noch immer gab es Tage, an denen er beim Nachhausekommen von der Schule, wo sie etwas über ein fernes, unbekanntes Land gelernt hatten, automatisch an Ben dachte: Sein Vater war weit gereist, er kannte die Welt. Und dann traf es ihn wie ein Schlag, und er erinnerte sich wieder daran, wie es jetzt war. Schnell holte er sich ein Glas Milch aus dem Kühlschrank oder wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und rieb es trocken, bevor er seine Mutter begrüßte, die von der Arbeit nach Hause kam. Es war ein Schock: Er und sein Vater waren sich nie besonders nahe gewesen, aber jetzt fühlte er sich beraubt. Er und Nancy hätten miteinander weinen können, sie hätten sich gegenseitig in den Armen wiegen und gemeinsam trauern können. Aber sie waren beide stille Menschen, und es fiel ihnen schwer, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
    »Wie geht es meinem Jungen?«, fragte sie ihn und drückte ihn an sich, bemerkte einen verschmierten Fleck an seiner Wange.
    »Ich hab’ mir in der Schule in den Finger geschnitten.«
    »Ich hol’ dir ein Pflaster.«
    Sie kamen zurecht.
    Whitman hatte Nancy nie besonders berührt, aber jetzt sah sie Ben und Joel und den ehemaligen Schauspieler in der Küche dieser Frau in Washington vor sich und verspürte plötzlich das Bedürfnis, sich wieder einmal einige seiner Gedichte anzusehen. Sie bat Joey, ihr die Gesammelten Werke aus der Bücherei mitzubringen.
    Die Ellbogen auf den ebenfalls mit einem bunten Wachstuch bedeckten Tisch ihrer Mutter gestützt, schlug sie das Buch auf.
    Ich singe den Leib, den elektrischen …
    Sie las das Gedicht, überlegte, wie die Frau in ihrer Küche wohl auf einige der freizügigeren Verse reagiert haben mochte. Sie blätterte um und kam zu einem Vers, der sie innehalten, der ihr den Atem in der Brust stocken ließ, bis sie nach Luft schnappen musste. Langsam las sie weiter:
    Der

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