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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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Menschen, die sich ruhig, aber zielstrebig vorwärtsbewegten. Auch sie waren »anders«, klein und dunkelhaarig und außergewöhnlich ordentlich angezogen. Sie wichen ihm in weiten Bögen aus, gingen zur Seite, überholten ihn, während er dahinschlenderte: Diese Leute hatten zu tun.
    Er hatte sich alle Mühe gegeben, in der neuen Welt nicht aufzufallen, hatte die störenden Fäden, die ihm von einem vergangenen Leben anhingen, einen nach dem anderen durchtrennt. Zuhause. Mutter. Sprache … Er, der herausgerissen, verpflanzt worden war, hatte sich korrekt benommen und seine Gedanken für sich behalten. Er hatte versucht, an Bruchstücken festzuhalten, an einzelnen Momenten, aber nach und nach waren sie alle verblasst. Die amerikanische Flagge war groß und bunt und flatterte im Wind. Langsam wurde er Teil des neuen Landes. Er spielte Baseball, las sonntags die Cartoons, ging ins Kino, lernte die Texte der Lieder aus der Hitparade auswendig, spielte zu Fats Waller Klavier auf einer Schuhschachtel. Früher hatte Ben mitgesummt, wenn Bing Crosby mit weicher Stimme seine Schmachtfetzen im Radio sang, und gelegentlich die eine oder andere Liedzeile improvisiert: » Where the blue of the night meets the gold of the day … b’b’booo …«, also hatte Joey es seinem Vater gleichgetan. Ben war fort, aber Bing war noch da und gab dieselben Schmachtfetzen zum Besten.
    Es hatte bestimmte Momente gegeben, die Biegung eines Nackens, einen hellen Kimono , eine verwirrte Frage – » Wie soll deine Mutter geheißen haben?« –, aber das war schon Jahre her. Der Name seiner Mutter lautete Nancy, sein Vater war Ben und vor langer Zeit einmal ein Schwimmass und Seemann gewesen, aber dann war er gestorben. Ernste Gesichter. Mitleid. Es muss schlimm sein, den Vater zu verlieren. Sicheres Terrain.
    Er sah sich um: In den Straßen ging es zu wie in einem Ameisenhaufen, und er gehörte nicht dazu. Er war hier ein Außenseiter, ein Amerikaner.

TEIL DREI

Kapitel 24
    SHARPLESS ERSCHRAK BEI Nancys Anblick, als sie mit Cho-Chos verweint aussehendem Kind auf dem Arm im Konsulat erschien: Sie schien nicht ganz bei sich zu sein. Viel zu hastig, wie eine schlechte Schauspielerin, die ihren Text herunterhaspelte, erklärte sie, sie sei gekommen, um sich zu verabschieden. Sie habe mit der Mutter des Jungen eine Vereinbarung getroffen und werde ihn mit nach Amerika nehmen.
    »Bist du dir sicher, dass du sie richtig verstanden hast?«
    Er war überzeugt davon, dass das nicht der Fall sein konnte, aber seine Nichte hatte offenbar keine Zeit für weitere Erklärungen, ihr Dampfer würde in Kürze ablegen.
    »Und Leutnant Pinkerton?«
    »Er musste zurück auf sein Schiff.«
    Sharpless beugte sich über den kleinen Jungen, der aussah, als breche er jeden Moment erneut in Tränen aus. Sein bestickter Kimono war schmutzig und zerknittert.
    »Sachio?«, sagte er sanft.
    »Wie nennst du ihn?«
    »Das ist sein Name …«
    »Sein Name ist Joey, und ich muss ihm ein paar neue Sachen kaufen. Jetzt gleich.«
    Sie strich dem Kind ein paarmal beruhigend über den Kopf und drückte es an sich. Sharpless fiel auf, wie blass sie war, beinahe grau.
    »Dir ist doch klar, dass gewisse Formalitäten eingehalten werden müssen«, setzte er an, doch Nancy wischte seinen Einwand beiseite: Sie werde das Kind als Besucher mit an Bord nehmen. Um die Papiere werde sie sich später kümmern.
    »Bitte, Onkel. Überlass das mir.«
    Er rief einen Diener und trug ihm auf, sie zum nächstgelegenen Kleidergeschäft zu führen. Verwundert sann er darüber nach, wie sehr sich seine Nichte in den wenigen Tagen ihres Aufenthalts verändert hatte: Das adrette amerikanische Mädchen mit dem strahlenden Lächeln hatte sich in ein Nervenbündel mit einem zerknitterten, fleckigen Kleid verwandelt.
    »Ich hoffe, du hast dir nicht die Sachen ruiniert.«
    Sie blickte nach unten und bemerkte erst jetzt den dunkelroten Fleck auf der Seite knapp unterhalb der Brust. Sie runzelte die Stirn.
    »Was ist denn das? Hoffentlich kein Obstfleck.«
    Als sie sich umdrehte und zur Tür ging, fiel Sharpless’ Blick auf den Kimonoärmel des Jungen, den dunkel verfärbten, noch feuchten Saum, und seine Verwunderung schlug in Angst um.
    In der Hitze hatte sich auf den ungepflasterten Straßen von Nagasaki eine Schicht Staub angesammelt, der sich jetzt, aufgewirbelt von den Holzrädern, auf Sharpless’ Augenlider legte, seine Nasenlöcher verstopfte und ihn beim Einatmen zum Husten brachte. Er drängte den

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