Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
Vom Netzwerk:
Haustür geklingelt hatte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr er gewachsen war: Mit seinen vierzehn Jahren war er genauso groß wie sie. Er sah ihr in die Augen und wartete.
    »Darf ich reinkommen?«
    »Warum? Damit du mir noch mehr Lügen auftischen kannst?«
    Er ließ die Klinke los und trat mürrisch einen Schritt zurück, um sie hereinzulassen. Normalerweise betrat sie sein Zimmer nur, um zu putzen oder aufzuräumen, aber jetzt betrachtete sie es mit anderen Augen, mit den Augen einer Fremden. Die Kisten waren in den Keller getragen worden, und Louis hatte Bücherregale und einen Schrank eingebaut, die bis an die schräge Decke reichten.
    Neben dem Gaubenfenster stand ein alter Sessel. In der Raummitte, wo man aufrecht stehen konnte, befanden sich ein kleiner Schreibtisch und ein Stuhl mit einer gebogenen Sprossenlehne. Ein Wollteppich. Die Böden in dem Haus mit der elektrischen Küche waren mit weichen Wollteppichen bedeckt. Dieser warme Geruch, wie Schafe auf einer Weide …
    Auf einem der Regalbretter lagen einige kleine Gegenstände: eine zylindrisch geformte Meeresmuschel mit roten Spiralen; das winzige Skelett eines Fisches mit vollständig intakten hauchfeinen Gräten, ein Zweig getrockneter Algen, so zerbrechlich wie geschnitzte Jade. Sie hatte diese Gegenstände berührt und beim Abstauben verrückt, aber sie hatte sie nie eingehender betrachtet. Jetzt stellte sie fest, dass sie allesamt Zeugnisse längst vergangener Leben waren: Die Muschel hatte vor langer Zeit ein Lebewesen bewohnt, ein Fisch das Skelett getragen, die Alge sich einst im Salzwasser gewiegt.
    Nur einer der Gegenstände war von Menschenhand gemacht und entstammte nicht unmittelbar der Natur: ein hölzerner Kreisel, die Farbe so abgewetzt, dass er schon fast wieder von einfarbiger Schlichtheit war; nur hier und da ließ die Oberfläche noch sein früher leuchtendes Rot und Gelb erahnen.
    Sie streckte die Hand aus und berührte das abgegriffene Spielzeug mit der Fingerspitze, dann sagte sie mit belegter Stimme: »Ach, Joey, der Kreisel, wegen dieses Kreisels bist du zurückgerannt. Wenn du nur nicht zurückgerannt wärst, wenn ich dir nur nicht nachgerannt wäre …«
    Und wieder einmal wurde sie von diesem hässlichen, quälenden Schuldgefühl zerrissen, von Reue, und die alte Klage »Ach, könnte ich doch die Uhr zurückdrehen!« stieg in ihr hoch. Nur bis wann? Bis zu welchem Augenblick?
    »An jenem Tag«, fing sie an, »als ich dich schreien hörte …«
    Sie war in das Papierhaus zurückgerannt und hatte die Frau auf dem Boden liegen gesehen, Joey neben ihr auf den Knien; seine kleine Hand zog an dem weißen Schal, der sich langsam rot verfärbte. Ein albtraumhafter Anblick. Nancy wusste, was sie da vor sich sah: Einer der Passagiere an Bord ihres Schiffs hatte ihnen von der japanischen Tradition des Selbstmords erzählt. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum; gegen die aufsteigende Panik ankämpfend, schnappte sie sich das Kind und das glänzende Spielzeug neben ihm und floh.
    Später legte sie sich eine Erklärung zurecht: Die Mutter des Jungen hatte bereits zugestimmt, dass das Kind zu seinem Vater kommen sollte. Welchen Sinn hätte es gehabt, alle Beteiligten unbeantwortbaren Fragen auszusetzen, wenn die Frau nun einmal tot auf dem Boden lag? Bei einer offiziellen Untersuchung wäre ihnen vielleicht sogar das Sorgerecht verweigert worden … Der erbarmungslose Arm des Gesetzes hätte dem Jungen auch noch den Vater entziehen, ihn in eine fremdländische Institution einsperren können. Aber war sie überhaupt sicher gewesen, dass Joeys Mutter tot war? Sie hätte genauer hinsehen, Hilfe holen müssen. Was für ein Mensch war sie, einfach das Kind zu nehmen und wegzulaufen? Von einer Art Wahnsinn erfasst, hatte sie ihre Menschlichkeit verloren.
    Damals waren die Tore mit einem lauten Knall zugefallen. Ein Katholik hätte beichten können, sie hatte nur ihre stillen Gebete, in denen sie um Vergebung ihrer Sünden bitten konnte. Ihre Sünden: Da gab es mehrere. Eine sterbende Frau alleinzulassen war nur eine davon.
    »Aber wenn du dir nicht sicher warst, warum hast du mir dann gesagt, dass sie tot ist?«, fragte Joey jetzt. »Du hättest gemeinsam mit Onkel Henry nachsehen können! Vielleicht hättet ihr festgestellt, dass sie noch lebt, und du hättest es mir schon damals sagen können.«
    Und Gefahr laufen, ihn zu verlieren. Sie erinnerte sich an den ein ganzes Leben zurückliegenden Tag, an dem sie Mutter wurde, an dem sie

Weitere Kostenlose Bücher